2013 François Höpflinger

Geboren am 6. Juni 1948 in Zürich, Studium der Soziologie an der Universität Zürich, 1976 Doktorpromotion, 1985 Habilitation, 1994 Titularprofessor für Soziologie an der Universität Zürich; ab 1979 Projektleitung verschiedener Nationaler Forschungsprogramme und Forschungsarbeiten im Bereich der Demografie und Bevölkerungssoziologie, der Altersforschung und Gerontologie, der Generationenfragen und Generationenbeziehungen, der Familiensoziologie, der Sozialpolitik der Pflege im Alter, der Arbeit in späteren Lebensphasen sowie Wohnen in der zweiten Lebenshälfte; bahnbrechende Forschungen: u.a. das Nationale Forschungsprogramm NFP 32 «Alter/ Vieilleesse/Anziani»; 1999-2008 Forschungsdirektion des Universitären Instituts «Alter und Generationen», Sitten; seit 2007 selbständige Tätigkeit in Beratung,. Forschung und Konzeptarbeiten im Bereich Alters- und Generationenfragen. Seit 2014 Mitglied der Leitungsgruppe des Zentrums für Gerontologie der Universität Zürich.
Vontobel-Preis 2003 für Altersforschung (zusammen mit Valérie Hugentobler); 2013 Ehrenmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie.

In Anerkennung seiner jahrzehntelangen herausragenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Lebensformen und das gesellschaftliche Zusammenleben in der Schweiz, seiner erfolgreichen Bestrebungen, die öffentliche Diskussion über diese Entwicklung zu entfachen und zu inspirieren und seiner praktischen, alle Generationen und deren Potenziale einbeziehenden Beiträge zur Bewältigung der mit dem demografischen Wandel einhergehenden Herausforderungen.

Laudatio

Markus Zürcher

Wenn mit dem Brandenberger-Preis 2013 heute François Höpflinger für seine jahrzehntelangen «wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit den Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Lebensformen sowie das gesellschaftliche Zusammenleben in der Schweiz» geehrt wird, könnten Skeptiker Zweifel säen: Entspricht diese Nomination dem Willen der Stifterin Irma Marthe Brandenberger, Menschen auszuzeichnen, die sich selbstlos und unter grösstem persönlichen Einsatz für das Gemeinwohl verdient gemacht haben? Könnte nicht eingewendet werden, dass es angemessen entschädigte Berufspflicht eines Hochschulangehörigen ist, sich mit seinem Gegenstand auseinanderzusetzen und trägt wissenschaftliche Arbeit wirklich in der gelebten Praxis zum Gemeinwohl bei?

Die letzte Frage kann mit Blick auf den heutigen Laureaten umgehend mit einem uneingeschränkten Ja beantwortet werden, was bekanntlich nicht eben ein Wesensmerkmal akademischer Produktion ist, in einem möglichen Selbstverständnis bisweilen unter Berufung auf die Zweckfreiheit auch verpönt.

Die Frage nach dem selbstlosen, persönlichen Einsatz klärt die Vita von François Höpflinger auf: Diplomatisch ausgedrückt, zeichnet diese nicht den gradlinigen und sichern Weg zum gut ausgestatteten Ordinariat nach — dort ist der Laureat auch nie angelangt. Dies zum grossen Vorteil der praktischen Wirksamkeit seiner Arbeit. Seien wir glücklich, dass ihm nicht das Schicksal des heutigen, auf den H-Index getrimmten Nachwuchsforschenden beschert war; ansonsten wären wir möglicherweise heute nicht hier. Es zeigt sich ein nicht seltenes Muster: Öffentliche Aufmerksamkeit und Erfolg in der Praxis stehen bisweilen in einem schwierigen Verhältnis zur Wertschätzung durch die «peers».

François Höpflinger hat 1974 sein Lizentiat und schon zwei Jahre später die Doktorwürde von der Universität Zürich erhalten. Neun Jahre später, 1985, stellte er seine Habilitatonsschrift fertig: In diesen neun Jahren war er an einem Forschungsprojekt zu Verwaltungsstrukturen und Kantonen beteiligt, arbeitete an einem Datenhandbuch für die Schweiz mit, leitete das Nationale Forschungsprogramm zu soziodemographischen Determinanten des Geburtenrückgangs, führte seine eigenen Forschungsarbeiten über Angestelltenverbände fort und absolvierte einen zweijährigen Forschungsaufenthalt in London. 1987 erteilte ihm die Universität Zürich die Venia Legendi und 1994 erfolgte die Ernennung zum Titularprofessor: Ab Studienbeginn bis heute ist er der Universität Zürich treu geblieben und hat zu ihrem Gedeihen beigetragen, worauf zurückzukommen ist. Es mangelte ihm weder an breit angelegten Forschungsinteressen noch an zielstrebiger Schaffenskraft. Wie zu zeigen sein wird, fanden seine Beiträge hohe Resonanz. So stellt sich die Frage, weshalb die Universität Zürich seine Arbeit nicht mit einem Lehrstuhl honoriert hat.

Da ich mich selbst sehr für die Geschichte der Soziologie in der Schweiz interessiere, indes auf den heutigen Tag kein Akten- und Quellenstudium betreiben konnte und den Laureaten vor dieser feierlichen Stunde nicht mit «oral history» belästigen wollte, erlaube ich mir einige Mutmassungen; nennen wir diese Hypothesen, die ich gerne nach meiner Pensionierung überprüfe, soll man doch gemäss François Hoepflinger seinen Ruhestand ab 50 planen.

Es ist nicht das Verdienst, auch nicht das Verschulden des Laureaten, dass er einer bis heute hervorgehobenen Generation angehört, die zwischen 1968 und 1974, in einer bewegten Zeit, Soziologie und Sozialpsychologie studierte. Bekanntlich standen diese Fachbereiche unter dem Generalverdacht, den Aufbruch, um nicht zu sagen den Aufruhr, zu befeuern. Erinnerlich ist die Aufregung, welche die im Auftrag der nationalen UNESCO-Kommission erstellte Studie über die Stellung der Frau in der Schweiz (1973) verursacht hat; eine aus heutiger Sicht nüchterne, empirische Bestandes-aufnahme seiner Kommilitonen Thomas Held und René Levy. In dieser Zeit interessierte sich François Höpflinger für Gewerkschaften und für eine im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zur Mehrheit gewordenen sozialen Formation, die Angestellten. Möglicherweise interessierte er sich auch für deren transformatives Potenzial.

1977 erschien ein Buch, dessen Titel und dessen Cover möglicherweise bereits gewisse Kreise provozierte: «Das unheimliche Imperium — Wirtschaftsverflechtung in der Schweiz». Das Buch erschien innerhalb von drei Jahren in drei Auflagen und wurde auch auf Französisch übersetzt. Selten ist einer akademischen Arbeit ein solcher Markterfolg vergönnt. Jene, die sich möglicherweise provoziert sahen, wussten nicht und viele wissen es bis heute nicht, dass der Laureat einen der wenigen genuinen Topoi der schweizerischen Soziologie aufgriff: Meines Wissens hat Richard Behrend diese eminent wichtige Frage unter dem Titel «Die Schweiz und der Imperialismus» 1932 erstmals aufgegriffen: Es geht um die eigenartige Konstellation, dass die Schweiz in der Weltgemeinschaft ein politisches Leichtgewicht, wirtschaftlich aber eine Grossmacht ist; Behrend postulierte, dass diese Spannungs-lage durch eine strikte Trennung von Aussenpolitik und Innenpolitik bewältigt wird. Spätestens seit der Zeitenwende von 1989 bzw. der Abstimmung über den EWR 1992 hat sich dieser fehlende Einbezug des gewichtigen Äusseren in die Diskussion und Gestaltung der inneren Verhältnisse sträflich gerächt und wir arbeiten dies immer noch mit ungewissem Ausgang ab. Eine vorbehaltlose Auseinandersetzung mit dem «Unheimlichen Imperium» hätte uns vielleicht das eine oder andere erspart. Jene, die sich da-mals das Buch erstanden haben, dürfen sich jedenfalls heute auch eines monetären Gewinns erfreuen, denn das Buch wird von den Antiquariaten gesucht— auch dies ist in der heutigen Zeit nicht die Regel.

Gewürdigt wird heute der Demograph, Familienforscher, Alterssoziologe und Sozialgerontologe, François Höpflinger, um nur einige Bezeichnungen zu nennen, mit denen versucht wird, seine breite Expertise auf einen Begriff zu bringen. Ab 1979 hat er in insgesamt acht Nationalen Forschungsprogrammen, oft in leitender Funktion, den Wandel der Familien- und Lebensformen entlang dem Lebensverlauf, von der Geburt, über Kindheit und Adoleszenz, dem frühen und mittleren Lebensalter, über die erste Phase des Pensionsalters bis hin zum höchsten Alter untersucht. Es ist daher sicher verfehlt, ihn auf den Altersforscher oder Sozialgerontologen, der er mit hohen Ver-diensten ist, zu reduzieren. Zugleich fällt es schwer, dieses breite Opus zu systematisieren. Nicht falsch kann es sein, wenn man sagt, dass er die Konsequenzen neuer Familien- und Lebensformen wie eines, über die letzten dreissig Jahren fundamental veränderten Alterungsprozesses auf alle Lebensbereiche systematisch ausgelotet hat: Nicht ganz befriedigend ist es, wenn man sagt, dass er sich in einer ersten Phase auf die Auswirkungen auf die Sozialpolitik, in einer zweiten und dritten Phase auf das Erwerbsleben, in einer vierten Phase auf die Beziehungen wie das Zusammenleben zwischen den Generationen und schliesslich auf das Wohnen sowie die Pflegesituation im hohen Alter konzentriert hat. In Stichworten umfasst dies unter Einbezug von weiteren durch Private und öffentliche Stellen finanzierten Forschungsprojekten Kinderwunsch, Fertilität, Familienformen, Haushaltsstrukturen und Familienplanung, Kinder, Teenager, Arbeit nach 50, mittleres Lebensalter, Babyboomer, Geschlecht, Alter und Gesundheit, Enkelkinder und Grosselternschaft, Generationenbeziehungen, Wohnen im Alter, Pflegebedürftigkeit und Langzeitpflege.

Versuchen wir diese Fülle im Zeitgeschehen einzuordnen: Zwischen 1988 und 1990 untersuchte und thematisierte er die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit: 14 Jahr später sind der damalige Innenminister Pascal Couchepin und der damalige Wirtschaftsminister Joseph Deiss vor die Medien getreten und haben die Vereinbarkeit zu einer zentralen Priorität für die Schweiz erklärt. Weitere acht Jahre später, am Ende des vergangenen Jahres erteilte die OECD der Schweiz in diesem Bereich erneut schlechte Zensuren. Die Politik hat die Thematik mittlerweile entdeckt, präsentiert aber gegenwärtig wenig Zielführendes. Von 1991 bis 1998 leitete er das Nationale Forschungsprogramm Alter, damit lange bevor Frank Schirrmacher in der FAZ mit dem «Methusalem Komplott» einen bevorstehenden Krieg der Generationen prophezeite, für welchen sich gerade in den Arbeiten von François Höpflinger nicht eben viel empirische Evidenzen beibringen lassen. Von der Zürcher Kantonalbank finanziert, befasste er sich 1996 mit der Alterung im Betrieb, erneut rund ein Dezennium bevor es dem einen oder anderen dämmerte, dass das von Bismarck festgelegte Pensionsalter 65 möglicherweise den heutigen Lebensverhältnissen wie -bedürfnissen nicht mehr angemessen ist.

Zurecht fragen Sie nun nach der Wirksamkeit seiner Arbeit für die Praxis, wenn ich gerade im Begriffe bin, der Politik ein schlechtes Zeugnis auszustellen. Seien wir differenziert. In Gemeinden und Kantonen hat sich von der Vereinbarkeit über die Selbständigkeit im Alter bis hin zur Pflege vieles getan und da war François Hoepflinger als Berater oftmals federführend beteiligt. Mit dem Nationalen Forschungsprogramm «Alter» (NFP 32, 1992-1998) trug er wesentlich zur Entwicklung und Koordination der Sozialgerontologie in der Schweiz bei; er hat in der Folge entscheidend zur Gründung des sozialpsychologisch ausgerichteten Zentrums für Gerontologie (ZfG) an der Universität Zürich beigetragen. Nebst seinem wissenschaftlichen Auftrag ist das Zentrum in vielfältiger Weise in die Altersarbeit der Stadt Zürich eingebunden. Die erfolgreiche Tätigkeit des Zentrums bewog die Universitätsleitung, in diesem Jahr den «Universitären Forschungsschwerpunkt» (UFSP) «Dynamik des gesunden Alterns» einzurichten. Die Ausrichtung dieses UFSP entspricht einem Anliegen der diesjährigen Preisausschreibung der Brandenberger Stiftung: Anstelle der bis heute dominierenden, defizit- und rehabilitationsorientierten klinischen Ansätzen wird anwendungsnah untersucht, wie die psychologische Gesundheit und die Lebens-qualität bis ins hohe Alter erhalten und stabilisiert werden kann — Der Laureat darf also zu Recht als akademischer «institution builder» gelten, wobei auch hier die Praxis im Fokus blieb.

Um die Wirksamkeit von François Höpflinger abzuschätzen, muss man indes die Alma Mater verlassen und in die Gemeinden und in die Be-triebe gehen. Die hauptsächlichen Schauplätze seines Wirkens sind nicht Yale, Princeton oder das M.I.T, sondern das Forum Samstagern im Bärenkeller Richterswil, Seniorenforen in Würz-burg und Umgebung, gut bekannte und anerkannte Seminarien sowie Ausbildungsgänge für Personalverantwortliche. Aber auch unter dem Titel Mass-Skischuhe findet man ihn, wenn es um Sturzgefahr und Sicherheit geht. Zu unterstreichen ist, dass im Sinne der diesjährigen Preis-Ausschreibung in allen vierzentralen Praxisfeldern des Laureaten — Altersarbeit, Wohnen, Verbleib im Arbeitsprozess, Pflege — stets die Teilhabe, die Selbständigkeit und die Lebensqualität im Fokus stehen. Ferner werden die einschlägigen Arbeiten von der Praxis in Auftrag gegeben und für die Praxis durchgeführt. Die evidenzbasierten Vorschläge von François Höpflinger sind denn auch in allen vier Feldern wirksam geworden und dies nicht erst seitdem er eine selbständige Forschungs- und Beratungstätigkeit zu Alters- und Generationenfragen wahrnimmt (2009).

Damit wird deutlich: François Höpflinger kennt keine Berührungsängste zur Praxis, scheut die Öffentlichkeit nicht und er kommt auch beim breiten Publikum an. Dies liegt nicht zuletzt da-ran, dass ihm alle Prätentionen fremd sind, die uns spätestens dann einzuholen drohen, wenn Kamera und Mikrofone auf uns gerichtet sind. Auf die Frage eines Journalisten des Beobachters im Oktober 2009, «wie ein Mann in den besten Forscherjahre dazu komme, sich dem Thema Alter zu verschreiben», was bei vielen wie eine Botox-Spritze — inklusive herausgestellter Brustkasten — wirken würde, meinte er trocken: «Ich bin ins Thema eingestiegen, weil ich 1991 die Leitung des Nationalen Forschungsprogramms Alter übernehmen konnte.» Die Gelegenheit, nachträglich eine «mission from god» zu konstruieren, wird nicht genutzt; und in der Tat: François Höpflinger ist angesichts seines Werkes nicht darauf angewiesen, an der eigenen Lebenslegende zu weben.
 
Wie jeder meiner Generation, der die Ehre und die echte Freude hat, eine Laudatio für eine ausserordentliche Persönlichkeit zu halten, googelt mal kurz: Abhängig davon, ob Google den Track des Suchverlaufes und die dazu gehörigen Algorithmen schon gespeichert hat, gelangt man zu unterschiedlichen Ergebnissen: Bei einer Erstabfrage mit geleertem Cache gelangt man zu atemberaubenden dreissig Seiten und 275 Treffer, die effektiv unseren Laureaten betreffende Informationen enthalten. Mit diesem Score ist das Maximum dessen erreicht, was uns Google jeweils auszuspucken beliebt. Bei einer Zweit- und Drittabfrage, wenn Google unser Objekt der Begierde erkannt hat, sind es immer noch rund 15 Seiten. Das mag oberflächlich sein. Dennoch: Wer in dieser Dimension im Internet seine Spuren hinterlässt, ist eine Person von öffentlichem Interesse und zu beachten ist, dass längst nicht alle seine Beiträge und Interviews für verschiedene Radiostationen, Fernsehsender und Zeitungen verzeichnet sind, geschweige denn all seine in unterschiedlichsten Settings gegebenen Referate. Kein Zweifel, dass er mit diesem öffentlichen Engagement massgeblich zur Veränderung des Bildes der Familie wie des Alterns und Alters beigetragen hat und dabei in Gemeinden, Institutionen und Betrieben ein praktisch wirksames Umdenken eingeleitet hat.

Wir haben nun François Höpflinger als eminenten Forscher, Mitbegründer von akademischen Kompetenzzentren und öffentliche Figur kennen gelernt. Eine weitere Facette fehlt und diese er-klärt möglicherweise seine enorme Schaffens-kraft und Präsenz: Er ist ein Unternehmer und zwar der besonderen Art: Die hier versammelte Familie Höpflinger ist ein Familien- und Wissensunternehmen, welches unter Ausschluss des Laureaten, von ihm war nun viel die Rede, mit Christina, Anna-Katharina und Mark Höpflinger die nachfolgenden Kompetenzen abdeckt: Supervision, Coaching, Konfliktberatung, Religionswissenschaft, Robotik, Elektronik und Digitaltechnik. Es erstaunt daher nicht, dass sich der Laureat in Diskussionen über den Einsatz sozialer Robotik ebenso souverän bewegt wie in seinem angestammten Metier: der Sozialforschung. Übrigens lebt er mit seinem Familienunternehmen vor, was er empfiehlt: eine zweite Karriere nach der Berufstätigkeit

Wenn Sie sich nun bereits auf die Musik freuen und meinen, jetzt sei dann etwa Schluss, muss ich Sie enttäuschen: François Höpflinger ist auch Satiriker und Erzähler oder Romancier: Unter Alp Träume finden sich so vielversprechende Titel wie die Politsatire «Die Alpen zwischen Abschaffung und Restauration: aktuelle Reformvorschläge», die Marktsatire «Das Dreckgeschäft — oder die Vermarktung alpiner Erde», die Techno-Satire «Aus der Frühgeschichte des Humankopierers», die Geronto-Satire «Wie aus der Schule für Angewandte Gerontologie eine Schule für aktive Verjüngung wurde» und die Stadtsatire über die Entwicklungshilfeorganisation HOPE, wobei dieses Akronym für «Helping Overdeveloped People» steht — Wie bereits die Titel anzeigen, steht diese Facette nicht peripher zum restlichen Werk von François Höpflinger. Zum einen stehen die Satiren für eine andere Form der Reflexion seines Forschungsgegenstandes. Zum anderen hat den Laureaten einerseits sein nüchterner soziologischer Blick, aber auch sein trockener, nie verletzender Humor davor bewahrt, die Familie, die Beziehungen zwischen den Generationen oder das Alter zu idealisieren oder zu romantisieren. Eingebrannt hat sich bei mir sein Statement: «eine Runzelästhetik wird sich nie durchsetzen», abgedruckt in der NZZ — Wer in den Genuss solcher treffenden Feststellungen kommen will, dem sei ein Vortrag von François Höpflinger empfohlen. Und unter uns bemerkt: In dieser Sparte ist er immer besser geworden, getreu seinem Rat, sich im Alter noch einmal neu zu erfinden.

In einem gewissen Sinne ist François Hoepflinger als Forscher, Berater, öffentliche Stimme, Unternehmer, Satiriker und Erzähler ein Renaissance-Mensch: Re-Naissance, Wiedergeburt kann auch als Abfolge von Generationen verstanden werden: Dies führt zurück zur immensen Arbeit des Laureaten, die heute mit dem Brandenberger-Preis geehrt und ausgezeichnet wird: Die Familie, die Demographie und die Abfolge der Generationen.


Alter und Generationen im Wandel - soziale Herausforderungen der nächsten Zukunft

François Höpflinger

Als erstes möchte ich mich sehr herzlich für den grosszügigen Preis der Dr. J. E. Brandenberger-Stiftung bedanken. Es war für mich — als ich erstmals davon erfuhr — eine riesige, unterwartete und positive Überraschung. Gleichzeitig wurde ich mir erneut bewusst, dass es nicht einfach ist, Selbst- und Fremdwahrnehmung in Übereinstimmung zu halten: Ist die geleistete Arbeit tatsächlich so bedeutsam, wie angeführt und in der prägnanten Laudatio von Markus Zürcher beschrieben? Vieles was beschrieben wurde, erfolgte in enger Zusammenarbeit mit anderen Menschen und ohne ständige Unterstützung durch und Austausch mit Ehefrau, Angehörigen, Freunden und Fachkolleginnen wäre nichts möglich gewesen.

Die eigenen Leistungen einzuordnen ist umso schwieriger, je mehr Freude und Interesse man an den gewählten Themen — Alter und Generationen — aufweist. Bei beiden Themen — Altern und Generationenbeziehungen — verknüpfen sich wissenschaftliches Interesse, gesellschaftliches Engagement und persönliche Betroffenheit sehr eng. Irgendwann habe ich die Bemerkung formuliert, dass Gerontologie — Wissenschaft und Praxis zum Altern — eine sehr spezielle Fachrichtung darstellt, da es im Grund immer auch um das eigene Altern geht. Wissenschaftliche Forschung, konzeptuelle Differenzierungen, Praxisvorschläge und persönliches Erleben ergeben einen interessanten Spannungsbogen, wie ich persönlich erlebte, als nahezu gleichzeitig mit dem Abschluss einer Nationalfondsstudie zu Enkelkindern und Grosseltern eigene Enkelkinder zu betreuen waren und das empirisch beobachtete Prinzip des «Engagements ohne Einmischung» selbst praktiziert werden musste. Ebenso gewinnt das Konzept der «Sandwich-Generation» persönlich eine andere Prägung, wenn neben der Betreuung von Enkelkindern zeitweise auch eine demenzerkrankte Mutter im Pflegeheim zu besuchen ist.

Die immer wieder auftretende direkte und persönliche Betroffenheit der Fach- und Praxisleute mit Alters- und Generationenthemen weist für die Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in die gesellschaftliche Realität zwei bedeutsame Vorteile auf:

Erstens werden wissenschaftliche Konzepte und Ergebnisse immer — und zwar teilweise sehr direkt — mit erlebten Alters- und Generationenfragen konfrontiert, was die Gefahr reduziert, dass sich die Wissenschaft von den praktischen Lebensrealitäten vollständig abhebt. Es zwingt bei Vorträgen vor Fachleuten, aber auch vor älteren Menschen dazu, die gefundenen Forschungsergebnisse nicht nur verständlich darzustellen, sondern sie auch mit den erlebten Erfahrungen der zuhörenden Personen aus jeweils unterschiedlichen Generationen zu verknüpfen.

Zweitens lösen sich bei Alters- und Generationenfragen die vielfach üblichen partei- und sozialpolitischen Gegensätze vielfach — wenn auch nicht immer — auf. Dies gilt vor allem auf kommunaler und teilweise auch auf kantonaler Ebene, wo Praxisanpassungen und Reformvor-schläge überraschend oft auf eine breite, parteiübergreifende Zustimmung stossen (sofern sie nicht zu viel kosten). Die Bereitschaft für kleinere oder grössere Innovationen ist bei beiden Themen vielfach überraschend hoch, gerade weil sich Alters- und Generationenfragen jenseits festgelegter ideologischer Grenzziehungen bewegen.

Der Preis der Stiftung Dr. J. E. Brandenberger bildet für mich eine zusätzliche Motivation in den Themen «Alter und Generationen» weiterhin aktiv und engagiert zu bleiben. Als schon ältere Person (chronologisches Alter: 65, subjektives Alter: etwas tiefer) kann ich eventuell vieles gelassener angehen und mir für bestimmte Reformthemen mehr Zeit nehmen. Gleichzeitig wird es mit steigendem Lebensalter — auch wenn man sich möglicherweise jünger fühlt als chronologisch angezeigt — zentral, Offenheit gegenüber nachkommenden Generationen von Forscherinnen, Fachpersonen und Praktikern zu pflegen. Dies schliesst ein zu realisieren, dass die eigenen Forschungs- und Sozialerfahrungen für jüngere Menschen möglicherweise interessant, aber nicht unbedingt relevant sind.

Im Folgenden möchte ich — kurz — einige bedeutsame gesellschaftliche Herausforderungen der nächsten Zukunft ansprechen; Herausforderungen, die sich aus der Kombination von demographischer Alterung und Strukturveränderungen des Alters und der Generationenbeziehungen ergeben. Dabei werden — vereinfacht — drei Phasen des Alterns mit unterschiedlichen intergene-rationellen Herausforderungen unterschieden:

a)    Erwerbstätige ältere Personen (50+)
b)    Gesunde Altersrentner und Altersrentnerinnen (die sogenannt «jungen Alten»).
c)    Fragile und pflegebedürftige alte

Ältere Erwerbspersonen (Arbeit 50+)

Die demographische Alterung der Erwerbsbevölkerung wie auch Veränderungen im Verhältnis von Erwerbsbevölkerung und Rentnerbevölkerung erfordern — früher oder später — auch in der Schweiz eine Erhöhung des Rentenalters. Die Forderung nach einer Erhöhung des Rentenalters findet bei Fachexperten generell hohe Zustimmung, nicht aber bei bedeutenden Teilen der Bevölkerung. Tatsache ist, dass eine erfolgreiche Ausdehnung der Lebensarbeitszeit nach oben bedeutsame Veränderungen der Arbeitswelt und Karrierestrukturen erfordert, um Motivation, Leistungsfähigkeit und Karrierechancen älterer Arbeitskräfte zu erhalten oder zu stärken. Da Menschen mit steigendem Lebensalter heterogener werden, sind zielgruppenspezifische Massnahmen notwendig (und standardisierte politische Regelungen erweisen sich selten als hilfreich). Je nach Berufsfeld stehen Weiterbildung, Umschulung, vermehrte Ruhephasen, Gesundheitsförderung oder neue Karriereformen im Vordergrund. Die Erfahrungen des Silberfuchs-Netzwerkes (www.silberfuchs-netz.ch) belegen, dass die Instrumente für eine altersfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt sowie für flexible Formen der Pensionierung an und für sich alle schon existieren und teilweise auch schon praktiziert werden, dass aber viele Unternehmen die sich anbahnenden Herausforderungen der demographischen Entwicklungen nicht oder noch zu wenig realisiert haben. Auch Fragen eines Generationenmanagements - zur optimalen Gestaltung der Beziehungen zwischen jungen und älteren Arbeitskräften in der Arbeit oder zwischen jungen Erwerbstätigen und älteren Kundinnen — werden vorläufig nur in ausgewählten Unternehmen angegangen. Auch die von der Tertianum-Stiftung (www.tertianum-stiftung.ch) angestrebte Aufwertung eines intergenerationellen Erfahrungsaustausches befindet sich erst im Anfangsstadium. Sozialpolitisch stehen Formen der Flexibilisierung der Pensionierung momentan im Zentrum, etwa auch in Richtung von Teilrentenmodellen, Formen einer reversiblen Verrentung usw. Die Erfahrungen von Ländern (wie Finnland), denen es gelungen ist, die Erwerbsjahre erfolgreich auszudehnen, weisen in die Richtung, dass primär ein Zusammenspiel von Gesundheits-, Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik erfolgsversprechend ist, wobei den Unternehmen eine zentrale Schlüsselrolle zukommt.

Gesunde Altersrentner und Altersrentnerinnen (die sogenannt «jungen Alten»)

Die Entstehung einer ausgedehnten Phase eines gesunden und dynamischen Rentenalters — zumindest für eine immer grösser werdende Gruppe älterer Frauen und Männer — ist sozial-historisch vergleichsweise neu und entsprechend ist die Gesellschaft noch zu wenig konsequent darauf ausgerichtet, die Erfahrungen und Ressourcen einer immer grösser werdenden Zahl aktiver, bewegter älterer Menschen zu nutzen. Da die Schweiz zu den Ländern mit besonders ausgedehnter gesunder bzw. behinderungsfreier Lebenserwartung 65-jähriger Menschen gehört, sind in der Schweiz die 65 bis 74-Jährigen insgesamt gesehen besonders aktiv, teilweise als erfahrene Konsumenten von Reise- und Wellness-Angeboten, teilweise aber auch als sozial engagierte Frauen und Männer.
Gesellschaftspolitisch werden zwei allgemeine Sachverhalte immer deutlicher: Erstens funktioniert eine zivile Gesellschaft nicht ohne aktive Nutzung der Ressourcen und Erfahrung gesunder pensionierter Frauen und Männer. Zweitens erweist sich eine gezielte Förderung der Ausdehnung der behinderungsfreien Lebenserwartung im Alter immer mehr als eine zentrale Lösung zur Bewältigung der demographischen Alterung, das heisst der Tatsache, dass immer mehr Frauen und Männer ein sehr hohes Alter (90 und mehr) erreichen. Denn wenn alte Menschen nicht oder später pflegebedürftig werden, werden jüngere Generationen gesundheitspolitisch wesentlich entlastet und wenn ältere Menschen sich aktiv für jüngere Generationen einsetzen, profitieren alle Generationen. Entsprechend wurden in den letzten Jahren vermehrt generationenübergreifende Projekte gestartet und erfolgreich durchgeführt (www.intergeneration.ch). Auch Netzwerke älterer Menschen, die sich aktiv, kreativ und sozial engagieren, gewinnen an Kraft (www.inno-vage.ch, www.stiftung-kreatives-alter.ch, www.rentarentner.ch). Zunehmend diskutiert und praktiziert werden heute gemeinschaftlich ausgerichtete Wohnprojekte, seien es Altershausgemeinschaften, seien es generationenübergreifende Wohnprojekte (www.zukunftswohnen.ch, www.age-stiftung.ch).

Ein zentrales Merkmal der Schweiz besteht darin, dass nahezu alle diese Aktivitäten von unten — von interessierten Personen selbst — initiiert und durchgesetzt werden, mit bisher wenig Unterstützung politischer Instanzen. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass die demographische Alterung sozusagen durch eine soziokulturelle Verjüngung der Rentnerbevölkerung kompensiert wird und die zentrale Zukunftsaufgabe dürfte darin bestehen, diese positive Entwicklungen zu fördern und generationenübergreifende Initiativen besser zu begleiten und zu vernetzen.

Fragile und pflegebedürftige alte Menschen («alte Alte»)

Die von Forschern ab den 1980er Jahren eingeführte Unterscheidung zwischen «jungen Alten» und «alten Alten» hat sich inzwischen auch in öffentlichen Diskussionen eingebürgert. Dabei haben sich die negativen Vorstellungen zum Alter nicht wesentlich verändert, sondern sie wurden nach oben verschoben. Oder wie der Gerontologe Ludwig Amrhein feststellte: Während die «jungen Alten» aufgewertet wurden, erfahren die «alten Alten» eher eine Abwertung. Nicht mehr die Pensionierung, sondern das hohe Alter— wo sich Risiken körperlicher und kognitiver Einschränkungen kumulieren — wird zur negativen Utopie des Lebens.

Hochaltrige Menschen sind besonders auf eine angepasste und solidarische Umwelt angewiesen, sei es eine hindernisfreie Wohnung und Wohnumgebung, seien es Hilfeleistungen bei der Alltagsbewältigung oder soziale Unterstützung etwa nach einer Verwitwung. Speziell sensorische Einschränkungen (Hör- und Seh-einbussen) und demenzielle Erkrankungen erfordern besondere Rücksichtnahme auf Menschen mit einer langjährigen Lebensgeschichte.

Sozial- und gesundheitspolitisch besteht die zentrale Herausforderung darin, dass sich eine Alterskultur für das vierte Lebensalter jenseits klassischer Planungs- und Leistungsvorstellungen bewegen muss (und heutige Einstufungs- und Abrechnungssysteme etwa der Krankenkassen oder der Hilflosenentschädigung sind nicht auf Verläufe bei demenzerkrankten alten Menschen ausgerichtet). Erfolgreiche Modelle von Demenzwohngruppen belegen, dass das Wohlbefinden demenzbetroffener alter Menschen erhalten werden kann, wenn Pflege und Betreuung demenz-gerecht organisiert werden. Gleichzeitig geht es nicht allein um eine alterssensible Kultur der Pflege, sondern auch um eine Kultur der Pflege der Pflegenden. Entlastungsangebote für pflegende Angehörige — wie sie die Schweizerische Alzheimervereinigung (www.alz.ch) propagiert — sind zentral, ebenso aber auch klare Vorstellungen zur Aufgabenteilung zwischen professionellen Fachpersonen und Angehörigen. Ein zentrales Resultat intereuropäischer Vergleiche besteht darin, dass deutlich wird, dass Pflegesysteme, in denen Pflegefachpersonen körperintime Pflegeleistungen übernehmen und Angehörige — namentlich Töchter und Söhne — sich weitgehend auf Hilfeleistungen konzentrieren, zur Stärkung intergenerationeller Beziehungen beitragen.

Die Pflege im Alter weist in der Schweiz einen international vergleichsweise hohen Stand auf. Die zentrale demographische Herausforderung besteht primär darin, genügend Pflegefachpersonen zu rekrutieren und auszubilden (auch, weil bis 2030 ein Grossteil der heute in der Alterspflege tätigen Personen pensioniert sein wird).

Bei allen — nur kurz angeführten — gesellschaftlichen Bestrebungen zur Neugestaltung der späten Erwerbsjahre, des gesunden Rentenalters und des hohen Lebensalters erscheint ein interdisziplinärer Ansatz — wie er von der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie SGG (www.sgg-ssg.ch) vertreten wird — zentral. Gerontologische Interdisziplinarität schliesst aller-dings nicht nur Zusammenarbeit mit Forschern aus anderen Fachrichtungen ein, sondern bein-haltet auch alltags- und praxissensible Denkansätze: Wissenschaft — Praxisfachleute — Betroffene miteinander.