Marcel Tanner

portrait tanner

33. Preisverleihung 2023
der Stiftung Dr. J. E. Brandenberger
am 25. November 2023 in Bern

 

«Politik und Wissenschaft: Schaffen von Mehrwert durch zielführenden Dialog»

Die Stiftung Dr. J.E. Brandenberger zeichnet jährlich eine Preisträgerin oder einen Preisträger mit dem mit CHF 200'000 dotierten Preis aus und will damit Persönlichkeiten würdigen, die sich für die Förderung und den Erhalt der humanitären Kultur eingesetzt haben.
Der Preis 2023 wurde an Professor Marcel Tanner verliehen, der durch sein Schaffen einen zielführenden Dialog zwischen Politik und Wissenschaft und damit nutzbringende Lösungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen ermöglicht hat.

Marcel Tanner beendete sein Studium der Biologie an der Universität Basel 1979 mit einer Dissertation über die Afrikanische Schlafkrankheit. Zwei Jahre später übernahm er die Leitung des Feldlabors des Swiss Tropical und Public Health Institute (Swiss TPH) in
Tansania, das er mit lokalen Partnern zu einem tansanischen Forschungs- und Public Health Institut kontinuierlich ausbaute. Zurück in Basel und nach einem «Public Health Studium» in London wurde ihm der Aufbau des Departements «Gesundheitswesen & Epidemiologie» übertragen.

Marcel Tanner förderte Forschung und Entwicklung von der Innovation über die Validierung wissenschaftlicher Resultate bis zu deren Umsetzung in zahlreichen Gesundheitssystemen. Unter seiner Leitung als Direktor (ab 1997) entwickelte sich das Swiss TPH zu einem weltweit anerkannten Institut der Globalen Gesundheit. Marcel Tanner und sein Team spielten eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Impfstoffen gegen Malaria und den sogenannten Public Private Partnerships (PPPs), welche die Entwicklung neuer Therapien gegen Armutskrankheiten initiierten und förderten. Marcel Tanner war ordentlicher Professor an der Universität Basel und dort auch Dekan der philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät und ist Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.
Bis heute stellt er seine Expertise zahlreichen nationalen und internationalen Gremien zur Verfügung.

«Die Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, dass man ihr komplexe Vorlagen erläutert. Und dazu braucht sie insbesondere Wissenschaftler, die nicht nur Wissen in den Universitäten, sondern auch Verständnis in der Bevölkerung und Kontext in den Medien schaffen. Marcel Tanner hat genau das getan» sagte der Bundeskanzler Walter Thurnherr in seiner Laudatio.

In seiner Ansprache betonte der Preisträger, dass er sich sein Leben lang vom Motto «no roots, no fruits» leiten liess. Nur wer wisse, wo er herkommt, wisse wo er hingeht!

«Die Preiskommission - geleitet von Fritz Schiesser - und der ganze Stiftungsrat freuen sich, Marcel Tanner mit dem Preis 2023 der Stiftung Dr. J.E. Brandenberger auszuzeichnen» sagt Stiftungsratspräsidentin Monica Duca Widmer, «weil er mit seinem der Humanität verpflichteten Wirken sowie seines langjährigen Einsatzes für den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft zur Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Menschen beigetragen hat.»

Es ist das 33. Mal, dass dieser hochdotierte Preis verliehen wird. Irma Marthe Brandenberger hat zum Gedenken an ihren Vater, Dr. J.E. Brandenberger, Erfinder des Cellophans, die Stiftung errichtet und als Zweck festgelegt, dass Personen ausgezeichnet werden sollen, die sich um die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen verdient gemacht haben. Unabhängig von Geschlecht und konfessioneller oder politischer Überzeugung, sollen Leistungen auf dem Gebiet der Natur- und Geisteswissenschaften, der Sozialarbeit, der Förderung und der Erhaltung der humanitären Kultur prämiert werden.

Die Preisverleihung hat am 25. November 2023 in Bern stattgefunden.

Für Rückfragen: Monica Duca Widmer, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!,  mobile: 079 337 01 19

 

 

Laudatio zugunsten von Prof. Marcel Tanner von Bundeskanzler Walter Thurnher

«It is generally foolish to bet against the

judgements of science, and when the

planet is at stake, it is insane»
Steven Weinberg

 

 

Eine Demokratie, in der die Wahrheit nicht mehr zählt, ist angezählt.

 

Sehr geehrte Frau Stiftungspräsidentin
Sehr geehrter Herr Preiskommissionspräsident
Meine Damen und Herren
Lieber Marcel

Zu den schlummernden, dann aber selbst nach Jahrzehnten plötzlich wieder ins Bewusstsein drängenden und in diesem Sinn prägenden Erinnerungen meiner Jugend gehören die Filme von Frederico Fellini, die wir im Dorfkino als Teil eines erweiterten Schulunterrichts gratis anschauen konnten. Fellinis Humor faszinierte mich schon seiner scharfsinnigen Formulierungen wegen: "Rom ist ein Friedhof, der strotzt vor Leben». Oder: «Das Leben ist eine Kombination von Magie und Pasta» - «La vita è una combinazione di magia e pasta”. Oder: “Zweifle nie am Urteil deiner Frau. Immerhin hat sie ein Genie geheiratet».

Einer der tiefgründigsten Filme Fellinis war «La prova d’Orchestra», die Orchesterprobe. Darin werden die Mitglieder eines Orchesters bei einer Probe vom Fernsehen interviewt. Jeder rühmt sein eigenes Instrument über alle Massen und spottet über die anderen. Die Klarinette ist nichts gegen die Trompete. Das Piano wichtiger als die Geige. Der Kontrabass unverzichtbar und bedeutender als alle anderen. Immer wieder kommt es zu Zwischenrufen. Bald ist die Probe ein Chaos, während sich draussen eine gewaltige Abrissbirne dem Proberaum nähert und schliesslich auf einen Schlag mit grosser Wucht und Zerstörung alles verändert. Erst jetzt kommen die Instrumentalisten zur Besinnung.

Die Pandemie von 2020 und die Welt von 2023 gleichen dieser Orchesterprobe. Eigentlich könnte die Staatengemeinschaft ein Orchester sein, aber sie präsentiert sich wie ein zerstrittener Haufen eitler Solisten. Offenbar bedarf es einer Katastrophe, um uns dies wieder bewusst zu machen. Mit jeder Generation wird die Abrissbirne grösser. Kaum sind wir an einer Katastrophe vorbeigeschrammt, droht ein noch grösseres Unheil.

Als Marcel Tanner Direktor des Schweizerischen Tropeninstituts war, arbeitete ich Ende der 1980er-Jahre als junger Diplomat in Moskau. Die Welt war eine andere. Vieles war in Bewegung. Zuerst langsam, dann immer schneller. Über die letzte Phase der Sowjetunion schrieb ein russischer Historiker später ein Buch, das in den USA erschien und dessen Titel heute auch für die Stimmung im Westen stehen könnte. Das Buch trug nämlich die Überschrift: «Everything was forever, until it was no more». Und auf der ersten Seite stand der Satz: «A peculiar paradox became apparent in those years: although the system’s collapse had been unimaginable before it began, it appeared unsurprising when it happened».

Mit anderen Worten, der Bruch war überraschend und absehbar zugleich. «Although it had been unimaginable before it began, it appeared unsurprising when it happened». Und bekanntlich waren auch die Krisen der Gegenwart nicht unangekündigt, weder die Klimakrise, noch die Pandemie oder der Krieg in der Ukraine. Wir waren sehr lange unbehelligt auf einem Fussweg unterwegs, der parallel zur Landstrasse unruhiger Jahrzehnte verlief. Dann führte der Weg auf die Hauptstrasse, und plötzlich stehen wir mitten im Verkehr. Plötzlich wird allen bewusst, welche Lektionen das Unerwartete und das Verdrängte dem skeptisch-verschlafenen Dahinwursteln erteilt haben. Und auf einmal werden Grundsätze in Frage gestellt, die vorher als gesichert galten. Die Welt ist eben nicht nur geopolitisch gespalten. Sie wird unaufhörlich heimgesucht von neuen Kriegen und Katastrophen, sie ist voll von verarmten oder flüchtenden Menschen, sie ist überreizt, fahrig, fiebrig und unberechenbar, und sie ist geprägt von Gesellschaften, die sie sich nur noch über jene einig sind, die sie hassen. Und je grösser die Dringlichkeit zu handeln, oder nur schon die Empfindung der Dringlichkeit, jetzt handeln zu müssen - Sie haben das etwa in der Pandemie erlebt, oder Sie sehen es in der Debatte über den Klimawandel - desto geringer ist das Verständnis für elementare Grundsätze und Grundwerte, ohne die keine Demokratie funktionieren kann. Über eine dieser Grundvoraussetzungen möchte ich heute sprechen, nämlich über den Stellenwert der Fakten in einer Demokratie, und weshalb es dafür Wissenschaftler wie Marcel Tanner braucht.

Die erste Frage ist leicht zu beantworten: Wie wichtig sind Fakten, und was wird mit ihnen angestellt? Darüber ist seit langem viel geschrieben worden. Vor zwanzig Jahren eröffnete Harry G. Frankfurt sein inzwischen berühmt gewordenes Büchlein mit dem Satz: «One of the most salient features of our culture ist hat there is so much bullshit».

Die Schrift mit eben diesem Titel: «On Bullshit» fährt dann allerdings fort mit der Beobachtung: «Most people are rather confident of their ability to recognize bullshit and to avoid being taken in by it». Heute sind wir da nicht mehr so sicher - und das nicht nur, weil wir täglich aufs Neue erfahren, wieweit das Internet eben keine Bibliothek wissenschaftlicher Fakten, sondern eine Deponie von Meinungen, Fälschungen, Lügen und ja, auch Fakten ist.

Natürlich ist nicht immer klar, was Fake ist, und was Fakt, oder Irrtum. Selbst Wissenschaftler täuschen sich. Sie schreiten voran, indem sie ihre Irrtümer überwinden. Beispiele? Aristoteles war überzeugt, dass ausschliesslich der Mann sich vermehrt. Die Frau gebäre nur, sie sei «der Boden, in dem die Pflanze wächst» (!). Blaise Pascal fand, negative Zahlen wären ein völliger Blödsinn. Johannes Fibiger erhielt 1926 den Nobelpreis für seine Entdeckung, dass Krebs durch Fadenwürmer erzeugt wird, und George-Louis Marie Leclerc, Comte de Buffon (der mit Buffons Nadel), vertrat als erster die These der Evolution – einfach anders herum: Er glaubte nicht, dass der Mensch vom Affen abstammt, sondern dass sich der Mensch zum Affen weiterentwickle. Bei diesem letzten Beispiel bin ich allerdings noch nicht sicher, wer am Schluss recht behalten wird.

Im Übrigen irren sich auch Politiker, und wir müssen, um den Beweis dafür anzutreten, nicht bis zur dümmlichen Bemerkung des US-Vizepräsidenten Dan Quayle zurückgehen, der auf die ihm eigene Art erklärte: «I believe we are on a an irreversible trend toward more freedom and democracy – but that could change». Heute ist auch nicht der Irrtum das Problem, sondern das bewusste und unverschämte Lügen, das opportunistische Faktenverdrehen, und der fanatische Hass, der sich gegen alle richtet, die mit belegbaren Fakten dagegenhalten.

Wie gesagt, natürlich ist nicht alles eindeutig, bzw. nicht schwarz oder weiss. Aber nur, weil nicht immer alles klar ist, ist nicht nichts klar. Es gibt Fakten. Die Erde ist nicht flach, sondern einigermassen rund. Die Schweiz ist nicht eine Diktatur, sondern einigermassen demokratisch. Und die Klimaveränderung ist nicht ein Schwindel, sondern einigermassen belegt.

Wenn sich die Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie nicht mehr auf überprüfbare Fakten stützen können, wenn der Unterschied: «wahr oder nicht wahr» immer häufiger durch die blutleere Beliebigkeit: «deine Meinung, meine Meinung» ersetzt wird, und wenn das eine oder andere politische Argument nicht durch eine wissenschaftliche Erkenntnis belegt oder widerlegt werden kann, ohne dass einem einer frech lachend ins Wort fällt und sich über die Wissenschaftler lustig macht, muss man höllisch aufpassen.

Eine Demokratie, in der die Wahrheit nicht mehr zählt, ist angezählt. Sie wird nicht lange weiterleben. Die Wissenschaft ist für uns eben nicht nur eine Voraussetzung für Innovation und für wirtschaftlichen Wohlstand. Die sogenannt wissenschaftliche, eigentlich vernünftige Methode - zu testen, was behauptet wird und vorläufig zu akzeptieren, was sich zum gegenwärtigen Stand des Unwissens als gültig oder als falsch erwiesen hat, darauf aufbauend neue Fragen zu stellen und diese wiederum zu testen, um laufend die eigenen Vorstellungen an der Realität zu messen, statt die Realität zu verweigern, weil sie nicht zu den eigenen Ideen passt – diese Methode, die davon ausgeht, dass neben allen berechtigten Meinungsunterschieden auch Fakten bestehen, mit denen man einen Teil dieser Differenzen prüfen und allenfalls auch klären kann, die ist genauso wichtig im politischen Diskurs offener Gesellschaften wie in den Labors erfolgreicher Universitäten.

Meine Damen und Herren, wir leben in einem Umfeld, in dem wir die meisten Geräte nicht mehr verstehen, die wir einschalten, und wir regulieren Technologien, die wir nicht mehr überschauen. Die Feststellung von G. K. Chesterton ist hundertjährig: «We are learning to do a great many clever things… The next great task will be to learn not to do them». Es dünkt einen, die Mahnung ist aktueller denn je.

Wenn wir in einer Demokratie Gesetze zu komplexen Geschäften entwerfen, beraten und allenfalls dem Volk vorlegen, dann empfiehlt es sich, wenigstens jene Fakten zu kennen, die als gesichert gelten, und sich von jenen Fachleuten über die Risiken oder die Chancen informieren zu lassen, die sich täglich damit auseinandersetzen. Oft sind das Wissenschaftler. Und damit kommen wir zur zweiten, schwierigeren Frage: «Wie verbessert man den Dialog zwischen Politik und Wissenschaft?»

Nicht nur, aber auch die Pandemie hat gezeigt, dass dieses Verhältnis verbessert werden kann. Zu spät und zu lang wie Fellinis Orchesterprobe war das Krisenmanagement. Erst am 30. März 2020 – die erste Welle war bereits am Abklingen – unterzeichnete der Bund ein Mandat für eine wissenschaftliche Beratung. Am Schluss der Pandemie lief es ganz ordentlich, aber am Anfang war es schwierig. Das Einzige, was schnell zur Hand war, waren die Vorwürfe: Das BAG habe keine Ahnung, die Wissenschaftler seien noch eitler als die Politiker, für den Nationalrat gelte statt einer «evidence based policy» eine «policy based evidence», die Wissenschaftler seien noch eitler als die Journalisten, das BAG habe immer noch keine Ahnung etc. etc.. Aber die Gründe lagen tiefer unten: Die Politik und die Wissenschaft lebten in verschiedenen Welten, sie sprachen verschiedene Sprachen und meinten etwas anderes, selbst, wenn sie dasselbe sagten. Und deshalb verstanden sie einander nicht. Nicht alle, und auch nicht immer, aber so oft und zuweilen so deutlich, dass alle merkten: hier besteht ein Handlungsbedarf.

Eine Ausnahme war Professor Marcel Tanner, der – wie mir schien – im geschwätzigen Chaos der ersten Monate stets einen kühlen Kopf bewahrte. Vielleicht lag das an seiner Erfahrung, vielleicht an seiner Basler Herkunft, an seinem Gensatz oder an seiner Erziehung. Aber mich dünkte von Anfang an, dieser Tanner spricht öffentlich wie ein Fahrlehrer, der neben seinem nervösen Fahrschüler sitzend nochmals ruhig die Grundsätze einer Gangschaltung durchgeht, auch wenn das Auto mitten auf der Kreuzung stehen bleibt. Während andere sich mit viel Eitelkeit und Fachterminologie in Szene setzten, setzte sich Marcel oft an denselben Holztisch, hinter ihm dieselben zwei Flaschen Rotwein, vor ihm nichts, und erklärte in kurzen, schlüssigen Sätzen, was wir wissen und was wir nicht wissen.

Ich habe in meinen Jahren als Bundeskanzler, und auch zuvor, viel mit Experten zu tun gehabt. Hervorragende Persönlichkeiten, beeindruckend intelligent, oft bescheiden, oder dann eben nicht. Und bei den allermeisten spüren Sie als Zuhörer relativ schnell, ob einer erklären kann. So zu vereinfachen, dass man es versteht, aber auch so, dass es noch stimmt. Eigentlich sollte die Ambition des beratenden Wissenschaftlers ja darin bestehen, die Zusammenhänge so zu erklären, dass der Zuhörer nachher klüger ist, und nicht, dass der Zuhörer erkennt, wie klug der Experte ist. Bei Marcel Tanner war das nie das Problem, höchstens, dass er zur Beantwortung einer konkreten Frage in meinem Büro oder am Telefon zuerst bei irgendeiner Seuchenbekämpfung in Kamerun oder mit einer Anekdote aus Tansania begann und man sich nach zehn Minuten ungeduldigem Warten auf die eine konkrete Antwort beim fragenden Gedanken erwischte: «Warum hat der Mann eigentlich nie eine Autobiographie geschrieben?». Aber wer seine Interviews gelesen hat, oder auch heute nachliest, der sieht gut: Erklären kann er.

Darüber hinaus: Ein guter Experte ist kein Fachidiot. Oder wie Georg Lichtenberg einmal feststellte «Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht». Dass Marcel Tanner kein Fachidiot ist, hat er in seinem Leben hundert Mal bewiesen. Und in einer Krise, in einer Demokratie, kann es matchentscheidend sein, dass nicht nur Fachidioten herumstehen. Denn hierzulande müssen Sie – Notrecht hin oder her – mit der Mehrheit politisieren. Sie müssen erklären und überzeugen können. Ich weiss, dass man sich zuweilen zynisch über die Kompetenzen der Bevölkerung äussert. Wer in der Schweiz etwas weiss, bedauert zuerst das Halbwissen der anderen. Als ich in den USA einmal über «direkte Demokratie» sprach, erzählte man mir von Governor Adlai Stevenson, der in den 1950er-Jahren Präsident werden wollte und von einem Anhänger mit den Worten unterstützt wurde: «Every thinking person in America will be voting for you». Worauf Stevenson antwortete: «I’m afraid that is not enough – I need a majority».

Aber ich bin sicher, ohne direkte Demokratie wäre die Schweiz schon ein paar Mal auseinandergeflogen. Das heisst, die Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, dass man ihr komplexe Vorlagen erläutert. Und dazu braucht sie insbesondere Wissenschaftler, die nicht nur Wissen in den Universitäten, sondern auch Verständnis in der Bevölkerung und Kontext in den Medien schaffen. Marcel Tanner hat genau das getan: Er warnte schon früh vor den längerfristigen Schäden der Pandemie, an die mentale Gesundheit, den Stress, an Long Covid. Er erinnerte an die Ebola-Epidemie 2014 und stellte den Zusammenhang her zwischen der Covid Impfung und jener gegen Malaria. Er blieb nüchtern, auch wenn er angefeindet wurde. Und er formulierte kritisch und treffend: «Das Problem ist, dass gute wissenschaftliche Leistungen oft Gruppenleistungen sind.... Die Wissenschaft honoriert zu sehr die Selbstprofilierung. Das führt dazu, dass Wissenschaftler, wie das auch Politiker tun, eher in den Spiegel schauen als zum Fenster hinaus». Klammer: Ich halte mich hier zurück… und zitiere nicht nochmals Lichtenberg, der meinte, wenn ein Affe in den Spiegel hineinguckt, könne kein Apostel herausschauen.

Marcel Tanner hat sich schon vor der Pandemie für einen verbesserten Austausch zwischen Wissenschaft und Politik sowie für weniger Silowissenschaft ausgesprochen. Er hat es erst recht während und nach der Pandemie getan. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir nach vielen gemeinsamen Aussprachen und Absprachen nächstens mit einem umfangreichen Antrag in den Bundesrat gelangen können, um den Dialog zwischen Politik und Wissenschaft in der Krise neu aufzugleisen. Marcel Tanner ist ein Mann der Wissenschaft und der Fakten. Ein kluger Mann. Aber auch ein Menschenfreund. Und ein sehr würdiger Preisträger für die diesjährige Auszeichnung der Stiftung Dr. J.E. Brandenberger. Und hätte er bei Fellinis Orchesterprobe mitgemacht, er wäre bereits nach kurzer Zeit an das Dirigentenpult geschritten, hätte den Stab in die Höhe genommen und ganz ruhig in seinem Basler Dialekt gesagt: «So, jetzt probiere mers nonemol alli mitenand!»

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