2005 Walter Kälin

Geboren 1951 in Zürich, Studien der Rechts-wissenschaft in Fribourg, Bern und Cambridge; Lizentiat der Universität Bern 1976, Schwyzer Anwaltsexamen 1979, 1982 Dissertation über «Das Prinzip des Non-Refoulement». Seit 1985 ausserordentlicher Professor am Institut für öffentliches Recht an der Universität Bern, seit 1988 ordentlicher Professor. Schwerpunkte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit sind Flüchtlingsrecht, internationaler Menschenrechtsschutz und schweizerisches Verfassungsrecht. 1991/92 Spezialberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission für Kuwait unter irakischer Besetzung und ab 2003 Mitglied des UNO-Menschenrechtsausschusses. Ab 2004 dient er als Repräsentant des Uno-Generalsekretärs für die Menschenrechte intern Vertriebener. Experte bei der Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung 1999 sowie für verschiedene UNO-Organisationen. Verfasser mehrerer juristischer Lehrbücher; 2004 Mitherausgeber von «Das Bild der Menschenrechte».
In Anerkennung seines beharrlichen Wirkens zur Klärung, Vermittlung und Durchsetzung der Idee der Menschenrechte, seines Einsatzes für bedrängte Mitmenschen und für seine unbestechliche, auf das politisch Mögliche ausgerichtete Arbeit für den Frieden.

Laudatio

Beat Sitter-Liver

Einen grossen Geburtstag feierte die UNESCO 1968: das zwanzigjährige Bestehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948. Zum Fest legte die UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur eine umfangreiche Sammlung von Zeugnissen menschenrechtlicher Tradition vor. Aus allen Teilen der Welt stammten die Belege, die bis ins 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückreichen. Die Idee zu diesem erhellenden Werk verdankte man der Genfer Philosophin Jeanne Hersch, bis zuletzt spiritus rector des Unternehmens, dessen Früchte unter dem Titel «Le droit d'être un HOMME» aufgelegt wurden. René Maheu, damals Generaldirektor der UNESCO, schrieb in der Einleitung:

«Il fut toujours — il est encore — des multitudes d'hommes, de femmes, d'enfants à qui on est parvenu, par la misère, la terreur ou le mensonge, à faire oublier leur dignité native, ou qui ont renoncé à l'effort de faire reconnaître cette dignité par autrui. Ceux-là se taisent. Les victimes qui se pleignent et qu'on entend jouissent déjà d'un sort meilleur.
Il importe donc d'avertir le lecteur qu'au revers de la lumière où il va entrer, il doit projeter en esprit cette masse de ténèbres. C'est l'ombre porté de l'histoire, qu'aucune lueur n'éclaire. C'est le fardeau que traîne le progrès; aucun élan ne le soulève. C'est le poids des crimes auxquels nous devons nos privilèges, et dont aucune générosité ne pourra tout à fait absoudre fût-ce notre innocence; car en étant bénéficiaires, nous en sommes objectivement complices.
De ces privilèges le plus insigne est de pouvoir penser avec une certaine objectivité la notion même des droits de l'homme universels. [ ]
[A la réflexion, le lecteur] découvrira-t-il que tout reste toujours à faire et à inventer. Si grands qu'aient été les efforts déployés, les progrès accomplis, si héroîques les sacrifices innombrables, le prix de l'homme libre n'a pas encore été payé par l'homme, ni même défini à sa juste valeur. La tâche immémoriale demeure. En ce moment même ...
En ce moment même, des millions d'êtres humains, nos semblables, accablés ou révoltés, nous attendent, toi et moi.»

Als hätte ihn dieser dringliche Appell in der Klosterschule zu Einsiedeln getroffen, um langsam zu einem Hauptkapitel seines Lebenskonzepts heranzureifen, so nimmt sich das Werden und Wirken von Walter Kälin aus. Theorie und Praxis der Menschenrechte und in eins damit das Engagement für den Frieden — in Kommunen, Ländern, schliesslich im globalen Kontext — beanspruchen einen erheblichen Teil seiner Lebenskraft. Dies nicht zufällig, sondern mit Überlegung und im festen Glauben daran, dass Menschenwürde sich nicht verhandeln lässt—wobei diese Würde nicht verstanden wird als statisch-naturrechtlich verbürgter Wert, sondern als prozesshaftes normatives Prinzip, das sich mit Pflichten nicht weniger als mit Rechten verbindet. Als ein Prinzip, das gerade nur solange Bestand hat, als wir, jede und jeder von uns, es in unserer Existenz bewähren — in ihrer individuellen, aber auch in ihrer sozialen und insbesondere politischen Ausprägung.

Walter Kälin wurde 1951 als Einsiedler Bürger in Zürich geboren. Seine ersten Schuljahre durchlief er in Rickenbach (Kt. Schwyz), um dann ins Internat der Klosterschule in Einsiedeln zu wechseln. Dort bestand er die Reifeprüfung. Hier sind es vor allem die höheren Schuljahre, an die er sich gerne erinnert. Aufbruchstimmung, Freiheitsdrang und politischer Aufruhr der späten 60er Jahre hinterliessen auch innerhalb der Klostermauern ihre Spuren. Es fehlte nicht an eindrücklichen Lehrern, unter ihnen der Philosophielehrer P. Rupert Ruhstaller, dessen Name in unserem Gespräch rasch einmal fällt. In diesen Jahren ergeben sich Einsichten und Erfahrungen, die auch heute noch Orientierung und Wirken stützen.
1971 nahm Walter Kälin das Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg auf, um ein Jahr später zur Berner Alma Mater zu ziehen. Die anschliessende Karriere verläuft in raschen Schritten: Über Lizentiat (1976), Praktikum (1976/77) und Schwyzer Anwaltsexamen (1979), alles mit Bravour bestanden, führt sie zum preisgekrönten Doktorat (1982). Zwei Jahre an der Harvard Law School (Cambridge MA, 1983 und 1984) — zunächst als Student, dann als «Visiting Scholar», schliessen sich an, um schnell in die Habilitierung an der Juristischen Fakultät der Universität Bern zu münden — im Juni 1985.

In den Jahren zwischen Lizentiat und Promotion assistiert Walter Kälin am Institut für öffentliches Recht der Berner Universität bei seinem Lehrer Jörg Paul Müller. Er teilt diese akademische Aufgabe mit einem nicht minder anspruchsvollen, freilich praktisch gelagerten Engagement bei der Schweizer Branche von Amnesty International. Was er gelernt hat, setzt er ein als Rechtsberater für Asylsuchende — was Verfügbarkeit während täglich 24 Stunden und darum auch nächtliche Einsätze erfordert. Die Arbeit für Betroffene, darunter Notleidende, Verfolgte, nimmt ihn hier gefangen. In dieser Zeit und über diese praktische Menschenrechtsarbeit — unser Laureat hatte die Mitte seiner Zwanzigerjahre überschritten —tritt nun jene besondere Ausformung seiner Persönlichkeit hervor, die andere, ob eng Vertraute oder ferner Stehende, als glückliche Fügung bezeichnen: die Verbindung von wachem fachlichem Interesse mit existenzieller Anteilnahme am Schicksal Gefährdeter, Entrechteter und Verfolgter. Sie reift zum Lebensentwurf aus, verkörpert sich in einem Einsatz, der im Wissen um die Differenz zur theoretisch orientierten akademischen Tätigkeit (sieht man von der Betreuung der Studierenden ab) geleistet wird. Aus diesem Wirken ausserhalb der universitären Hallen erwuchs die Dissertation zum Thema «Das Prinzip des Non-Refoulment» (Bern 1982). Die Arbeit hatte Pioniercharakter. In zahlreichen Besprechungen fand sie Echo, auch bei der Erarbeitung des Asylgesetzes, wo sie sich bis in die Wortwahl des Erlasses spiegelt.

Als nicht weniger wegleitend erwies sich die Habilitationsschrift. Ihr Thema, «Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde», lässt erkennen, dass hier in erster Linie der Rechtsgelehrte — freilich auch, sehe ich richtig, der politisch Interessierte — am Werke war. Der umfangreichen Studie, die seit 1994 in überarbeiteter und erweiterter Auflage vorliegt, war ein vergleichbarer Erfolg wie der Dissertation beschieden. Wie keine Schrift sonst, so urteilt heute ein jüngerer Kollege, bewirkte sie, dass sich die einschlägige Arbeit des Bundesgerichtes systematisierte und nach rationaleren Kriterien und Verfahren ausrichtete. Es lohnt sich, einen Blick auf Georg
 
Müllers Besprechung im Schweizerischen Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung' zu werfen. Dies nicht, um uns der hohen Wert-schätzung des Werkes zu vergewissern; vielmehr weil die Rezension die Grundhaltung, das wissenschaftliche Ethos und das methodische Vorgehen des Autors erörtert und dabei jene Züge hervorkehrt, die nicht allein dessen juristisches, sondern ebenso das humanitäre wie das politische Wirken bestimmen.
Gleich eingangs hält der Rezensent fest, der Titel des Werkes sei zu bescheiden; denn «nicht nur staatsrechtliche Verfahrensprobleme» würden abgehandelt, «sondern ganz allgemein Wesen, Voraussetzungen, Grenzen und Besonderheiten dieses ... Rechtsmittels auf Bundesebene» analysiert. Die umsichtige Erarbeitung des Kontextes also ist wichtig, weil so nur eine Aufgabe sich angemessen erörtern und bewältigen lässt. Der Vielfalt der Perspektiven, kurz einem ganzheitlichen Ansatz unterstellt Walter Kälin den Umgang mit Problemen. Dazu gehören, wie Georg Müller festhält, die differenzierte Analyse und die klare Strukturierung der Argumente, denen eine sorgfältige Erhebung der jeweiligen Zuständigkeiten, hier des Bundesgerichts, vorausgegangen sind. Die Vergewisserung bezüglich übergeordneter Normen ist damit gemeint, das heisst aber, die Kontrolle der eigenen Gedanken anhand eines vorgegebenen, nicht beliebigen normativen Rahmens. Ich erblicke darin das Bestreben, normativ gerichtete Interessen in die Grenzen dessen einzubinden, was wirklich und gültig ist, darum die Grenzen des Wünschbaren, der Visionen auch, absteckt. — Der Rezensent lobt, dass Kritik an der bundesgerichtlichen Praxis — etwa im Zusammenhang mit den «Erörterungen zum Verhältnis von verfassungskonformer, grammatikalischer und teleologischer Auslegung im Blick auf die Massgeblichkeit der Bundesgesetze, Bundesbeschlüsse und Staatsverträge ... [sowie] der Überprüfbarkeit von bundesrätlichen Verordnungen» u.s.w.— dass diese Kritik stets ausgewogen und begründet erfolgt. Insbesondere die Ausgewogenheit ist hier zu betonen, ist sie doch notwendige Voraussetzung dafür, bei der Beilegung von Interessenkonflikten das Vertrauen und offene Ohren aller Parteien zu gewinnen. Diese Fähigkeit, so versichern Gewährsleute immer wieder, sticht in Walter Kälins humanitärem und zugleich politisch sensiblem Wirken hervor. Hier, in der gelehrten Schrift, spiegelt sie sich zum Beispiel darin, dass in der Diskussion zum «Anfechtungsobjekt der staatsrechtlichen Beschwerde» das Buch sich auszeichne «durch gekonnte Aufarbeitung und teils zustimmende, teils kritische Beurteilung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung».
Der Rezensent — der es auch an kritisch-konstruktiven oder korrigierenden Bemerkungen nicht fehlen lässt, was seine Glaubwürdigkeit unterstreicht — anerkennt die grosse Sachkenntnis, die «dogmatisch sauberen, sorgfältig differenzierenden, sprachlich einwandfreien Ausführungen» und den Wert des «sehr guten und sehr wichtigen Werkes, einer Fundgrube» als «unentbehrliches Hilfsmittel für den Praktiker» Es sind dies, mutatis mutandis, Züge, die auch Walter Kälins Wirken für die konstruktive Klärung, für die Verbreitung und für die Achtung der Menschenrechte auszeichnen, wobei der Praxisorientierung besonders Gewicht zukommt.

Für die Arbeitsweise von Walter Kälin, für ihre Bedeutung und für ihre Aktualität, ist die sechs Jahre zurückliegende Kontroverse mit Paul Rechsteiner in der Wochenzeitung' symptomatisch. Rechsteiner, von Respekt heischender Betroffenheit bewegt und, wie mir scheint, von der Existenz eines zeitlosen übergeordneten Naturrechts ausgehend, warf Kälin vor, er habe sich in seinem Gutachten zu den rechtlichen Aspekten der Schweizer Flüchtlingspolitik während der Nazi-Zeit, bestellt von der Unabhängigen Experten-kommission6, des positivistischen Vorgehens und überhaupt eines sträflich verengten Blicks schuldig gemacht — einer Engsichtigkeit, die es ihm nicht erlaube, die um Aufnahme ersuchen-den Jüdinnen und Juden als politische Flüchtlinge anzuerkennen. Gewisse Erlasse der Behörden, so Rechsteiner, seien indessen in eklatantem Widerspruch zu «den normativen Prinzipien des demokratischen Schweizer Staates» gestanden; sie hätten keine Geltung beanspruchen dürfen. Das hätte Kälin herausheben sollen, denn eine der Sache angemessene Analyse «müsste über das Sein hinaus nach dem Sollen fragen».
In seiner Replik macht Kälin den Kontrahenten auf den ihm erteilten Auftrag aufmerksam, notiert auch die Bedingungen, unter denen er 1999 zu arbeiten hatte: Noch war die Bergier-Kommission mit Textstudien befasst, kein Berichtsentwurf lag vor. Ins Gewicht fällt, dass Auftragstreue und damit die Analyse der Zeitverhältnisse, gerade auch in deren rechtlicher Gestalt, die Bewertung aus heutiger Sicht keineswegs ausschliesst. Zulänglich wird sie aber erst, wenn ihr die Aufarbeitung von Herkunft und damaligem Stand der rechtlichen Grundlagen staatlichen Handelns vorausgeht. Neben dieser Vorarbeit ist wichtig die Einsicht in das Heranwachsen von Einstellungen, von Normen und Praktiken, die sich aus heutiger Sicht nicht vertreten lassen. Kälin betont die Auffassung des Rechts als eines Prozesses, über den nicht schon entschieden ist, bevor er abgelaufen ist. Die heutige Erschütterung angesichts dessen, was der Fall war, drängt in der Tat zur Frage, wie es geschehen konnte, «dass ein Staat wie die Schweiz mit ihrer freiheitlichen und demokratischen Tradition auf juristischer Ebene so unangefochten rassistische Massnahmen einführen und anwenden konnte». Die umsichtige Analyse lässt erkennen, dass die Grundrechte lange vor dem Krieg «auf ein Willkürverbot reduziert und damit weitgehend abgeschafft» waren. Etliche der normativen Prinzipien, auf die Rechsteiner verweist, galten bereits ab dem 1. Weltkrieg nicht mehr. Mit «Schatten der Vergangenheit» muss sich auseinandersetzen, wer zu verhindern sucht, dass Ähnliches sich wiederhole. Die blosse Berufung auf eine imaginierte «hehre Rechtsordnung» hilft nicht weiter. Der «latent immer lauernden Gefahr» der Korrumpierung des Rechts vermag erst entgegen zu wirken, wer diese Gefahr anerkennt und die Schleichwege ergründet, auf denen Recht zu Unrecht wird.
Die von Wertwissen getriebene Sorge, eben dies zu vermeiden, motiviert Kälin, jene Wege auszuforschen. Für den hier angesprochenen Fall gilt, dass «Genauso wie der juristischen die histori¬sche Aufarbeitung vorausgehen muss, ... die Aufarbeitung der Geschichte des Flüchtlingsrechts Voraussetzung [ist] für die juristische Bewältigung durch die heutigen Gerichte.» Erst so lassen sich etwa auch Fragen wie jene nach der Beihilfe zum Völkermord beurteilen.
Man könnte versucht sein, Kälin vorzurechnen, auch seine methodologisch unanfechtbare Position baue insgeheim auf einen naturrechtlichen Grundstein. Man übersähe dabei aber die von ihm ausdrücklich vertretene Position, wonach Werte und Prinzipien, nach denen wir eigenes wie fremdes, also auch historisches Denken und Handeln beurteilen, selber geschichtliche Errungenschaften sind. Es kommt letztlich nicht darauf an, ob wir sie als naturrechtlich verbürgt auffassen, oder nicht. In beiden Fällen bleibt uns nichts anderes übrig, als sie in einem offenen, diskursiven Prozess zu formulieren und zu festigen. Im Anschluss an den Rechtsphilosophen Reinhold Zippelius gesprochen: Auch im Bereich des Rechts geniessen oberste Werte und Prinzipien Achtung und Geltung nur dann, wenn es uns gelingt, sie einander in stetem Bemühen als opinio iuris aufzureden. Warum das so ist, und warum wir immer mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass auch höchste Werte, etwa die Menschenwürde, korrumpiert werden, sieht allerdings schärfer, wer sich, wie Kälin, der Skepsis, das heisst der sorgfältigen, möglichst unvoreingenommenen und eindringlichen Umschau — das nämlich meint das griechische Wort <Skepsis> —befleissigt. Dann erst wird er sich nachhaltig für diese Werte — für deren Anerkennung immer schon ein existenzielles Bekenntnis vorausgesetzt wird — einsetzen. In Erinnerung an unser Gespräch meine ich, dass damit in nuce zu Wort kommt, was Walter Kälins menschenrechtliches Wirken bewegt. Und ich wage es, jetzt doch ein Stück weit einer Intuition Paul Rechsteiners folgend, dieses Wirken als existenzielles, prozesshaft-naturrechtliches Engagement für die Idee des Guten in der weltweiten Menschengemeinschaft zu charakterisieren. Naturrechtlich darum, weil es auf als letztlich nicht verhandelbare normative Überzeugungen hinausläuft.

Es ist an der Zeit, den Lebenslauf wieder aufzugreifen. Auf die Habilitation im Juni 1985 — da waren wir verblieben — folgt schon drei Monate später die Berufung zum vollamtlichen ausserordentlichen Professor für Staats- und Völkerrecht an der zuständigen Berner Fakultät. Bereits nach zweieinhalb Jahren ist Walter Kälin Ordinarius. Dass die steile Karriere auch über das Amt des Dekans klettert, sei nebenbei vermerkt. Seine Forschungsarbeit konzentriert sich auf drei weite Bereiche: Grund- und Menschenrechte; Flüchtlingsrecht; öffentliches Verfahrensrecht und Ver-fassungsgerichtsrecht. Zwischen 1992 und 1994 dient er der Universität Freiburg (Schweiz) als Gastprofessor; seit 2003 versieht er das Amt eines Professeur suppléant am Centre universitaire du droit international humanitaire in Genf. Dass die Wertschätzung auch im Ausland nichts zu wünschen übrig lässt, veranschaulicht die Mitgliedschaft — auch in Exekutivfunktionen — in dortigen wissenschaftlichen Organisationen sowie die Mitarbeit in Herausgebergremien wichtiger Fachzeitschriften. Ich erspare Ihnen eine Aufzählung, wie ich denn auch die reiche Liste der Veröffentlichungen unseres Preisträgers nicht analysiere. Leichten Herzens erlaube ich mir dies; wir verleihen hier keinen Benoist-Preis. Im übrigen wissen Sie ja, dass Sie im Internet Ihre Neugier stillen können. Weil er beeindruckend wirkt, will ich Ihnen indes wenigstens einen quantitativen Hinweis nicht versagen: Neben 12 Büchern, zum Teil mit Kolleginnen und Kollegen erarbeitet, finden sich 12 herausgegebene Bände, 105 Artikel und Beiträge zu Zeitschriften und Sammelbänden, 48 kleinere Arbeiten, populärwissenschaftliche Artikel und Zeitungsartikel, 6 Rezensionen, die Mitarbeit an Büchern anderer Autoren, vor allem von Jörg Paul Müller, schliesslich 94 Gutachten und Stellungnahmen als Experte. Letztere sind für die Wirkung in Gesellschaft und Politik besonders wichtig, ich werde darauf zurückkommen. Ist man nicht Formalist, dann fällt es bei einem Juristen in der Regel nicht leicht, zwischen universitärer Tätigkeit und den Auftritten extra muros genau zu unterscheiden. Das ist auch bei unserem Preisträger nicht anders. Wiederum muss ich auf das Verlesen einer imponierenden Liste verzichten: jener der für das im weiten Sinne verstandene Gemeinwesen geleisteten Arbeit. Doch sollen aus diesem Bereich wenigstens ein paar Beispiele verzeichnet werden, weil sie in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Wirken stehen, für welches die Brandenberger Stiftung Walter Kälin auszeichnet. So war bzw. ist er Mitglied verschiedener eidgenössischer Experten-kommissionen, im Zusammenhang mit Revisionen des Asylgesetzes, aber auch der neuen Migrationspolitik; Experte des Deutschen Bundesverfassungsgerichtes in Asylfällen; Experte für das Hochkommissariat der UNO für Menschenrechte, in Indonesien und in Osttimor; Experte für das Hochkommissariat der UNO für Flüchtlinge, bei verschiedenen Gelegenheiten, zu denen regelmässige Unterrichtstätigkeit an den Kursen für Flüchtlingsrecht des UNHCR in San Remo zählen; Spezialberichterstatter der UNO-Menschenrechtskommission über die Situation der Menschenrechte im irakisch besetzten Kuwait; Mitglied des Ausschusses für Menschenrechte der UNO seit 2003; seit Herbst 2004 Repräsentant des UNO-Generalsekretärs für Menschen-rechte der Binnenvertriebenen.

Soll mit anderen zusammen der Grund für gemeinsam Verpflichtendes gesichert werden, ist Distanz zu den eigenen kulturellen, emotionalen und intellektuellen Voraussetzungen unerlässlich. Walter Kälin übt sich seit je in dieser Tugend. Sie paart sich mit spürsinniger Neugier und konstruktiver Toleranz. Erfolg ist indes dem gemeinsamen Suchen nach Grundfreiheiten nur beschieden, wenn eine zweite, zunächst paradox erscheinende Anforderung erfüllt wird: das Gebot der Unabhängigkeit. Erst dessen Befolgung erlaubt es, das zu erringen, was, wenn auch nur vorläufig, als das einer Leitidee verpflichtete, zugleich den besonderen Bedingungen der konkreten Situation Angemessene gelten kann: das Kluge und darum Richtige.
Wie sehr Unabhängigkeit auch in schwieriger Lage unseren Laureaten auszeichnet, soll ein weiteres Beispiel vor Augen führen. Ich lasse dabei unbeachtet, dass — was seinerzeit einiges Aufsehen erregte — Walter Kälin in der Analyse konfliktträchtiger Situationen im Asylwesen auch die Aufgaben, Pflichten und die legitimen Interessen des Staatswesens berücksichtigte, was ihm die Schelte von enttäuschten, weil weniger umsichtigen Nichtregierungsorganisationen (NGO) eintrug. Mein Beispiel betrifft einen Auftrag des Departementes für auswärtige Angelegenheiten. Der Spezialist für Völkerrecht sollte die Möglichkeiten zur Reform der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen (MRK) studieren. Seit längerem galt und gilt die MRK als der politischen Manipulation zugänglich und darum ineffizient. Nun muss man wissen, dass die Vorsteherin des EDA, also die Auftraggeberin, sich zur Sache geäussert hatte, direkt vor der MRK. Sie wies zunächst auf die sechs einschlägigen internationalen Konventionen hin, die der praktischen Respektierung der Menschenrechte dienen sollen; anschliessend erwog sie, als Mitglieder der MRK nur Staaten zuzulassen, welche diese Konventionen auch umsetzen. Das hinderte Walter Kälin nicht, in seiner Studie, die er mit Cecflia Jimdnez, einer Kollegin aus den Philippinen, verfasste, bestimmt die Ansicht zu vertreten, es wäre verfehlt, den Zugang zur Kommission mit festen Kriterien zu erschweren. Die beiden Experten erwogen, die Kommission durch einen Menschenrechtsrat der UNO zu ersetzen, dem im Prinzip sämtliche Staaten angehören würden. Ein derartiger Rat wäre einem Weltparlament zu vergleichen, in dem alle, auch sich widersprechende Interessen und Strömungen zu Worte kämen. Menschenrechte, wir haben es gehört, sind ja nicht einfach vorgegeben; ihre Inhalte, Tragweite und Geltung lassen sich erst auf politisch-diskursivem Wege ermitteln und universell festlegen. Das setzt die Mitwirkung aller Staaten voraus, d.h. den Einbezug des vollständigen Spektrums der Meinungen, die sich in diesem Parlament artikulieren sollen. Kälin und Jimdnez sinnen auf andere Mittel, Staaten, die, was sie fordern, selber nicht einhalten, zur Ordnung zu rufen. Sie nehmen ein umfassendes Berichtswesen in Aussicht. Dies bedingt die rechtzeitig vor den Kommissions- oder Ratssitzungen verfügbare Kompilation von Länderberichten zum aktuellen Stand der jeweiligen nationalen Menschenrechtspraxis. Oder die Erklärung der Mitglieder der Kommission bzw. des Rates, sie seien gewillt, in ihrem nationalen Rahmen dafür zu sorgen, dass den Menschenrechten, zu deren Schutz sich alle Staaten mit der Ratifikation der UNO-Charta bereits feierlich verpflichtet hatten, Nachdruck verliehen werde. Derlei Deklarationen nähmen diese Persönlichkeiten «psychologisch in die Pflicht und würden es schwierig machen, sich offen gegen die Menschenwürde zu stellen»7. —Auf das, was sachlich unerlässlich und politisch vermutlich möglich ist, richtet sich des Laureaten Blick. Im übrigen gibt er zu bedenken, die Vereinten Nationen seien «so gut oder schlecht wie die Welt selbst», nur in Grenzen liessen sich Spannungen in der Welt durch Strukturreformen in der UNO abbauen.

Von praktisch unmittelbarer Bedeutung für die Festigung und Umsetzung von Menschenrechten sind die seit zwanzig Jahren nahezu hundert Gutachten, Berichte und Analysen, die Walter Kälin allein oder im Verein mit weiteren Expertinnen und Experten erarbeitete. Dazu zählen eine beachtliche Reihe von Anhörungen und Stellungnahmen. Das Thema haben wir bereits angeschnitten. Insgesamt vermittelt diese Tätigkeit ein eindrückliches Bild des «Knochenarbeiters für den Frieden», der sein Wissen und Können nicht einfach nur im akademischen Schutzraum glänzen lässt, sondern als griffiges Instrument auf dem oft genug dornigen Acker drückender Probleme und drängender Bedürfnisse einsetzt. So verbinden sich die Äusserungen oft mit Empfehlungen für anstehende Massnahmen zuhanden der Auftraggeber, auch wenn sie nicht immer willkommen sind. Die Auftraggeber — und das spricht erneut nicht nur für die breite Anerkennung von Kompetenz, sondern für das an Leit-werten und gleichzeitig konkreten Aufgaben ausgerichtete Engagement —, die Auftraggeber stammen aus ganz unterschiedlichen Bereichen: Neben internationalen Organisationen finden sich unterschiedliche Kommissionen nationaler Parlamente (natürlich insbesondere der beiden eidgenössischen Räte), Verwaltungsstellen von Bund, Kantonen und Gemeinden, aber auch Nichtregierungsorganisationen und weitere Institutionen der Zivilgesellschaft. Zu reich ist hier die Ernte, als dass sie umfassend gewürdigt werden könnte; wenige Hinweise müssen genügen: Beide, Entwurf und Schlussfassung des «Report On the Situation of Human Rights in Kuwait Under Iraqi Occupation» gingen an die «UN Commission an Human rights» (1992); Berichte und Strategien zur Dezentralisierung in Jordanien (1994/95), im Libanon (1997), in Pakistan (1999) und in Nepal (2001) waren ebenso dem «United Nations Development Programme» wie der eidgenössischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) zugedacht. Anhörungen zum Migrationsgesetz vor der staatspolitischen Kommission des Nationalrates (1993) und zum Bundesgesetz über Zwangsmassnahmen vor der analogen Kommission des Ständerates (1993) mögen als pars pro toto gelten. Ebenso das für die Beratungsstelle für Asylsuchende des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS) verfasste Gutachten betreffend Entscheide des Bundesrates in Sachen O.S. (27.7.1991); dann der Bericht über Flüchtlinge in Albanien zuhanden des Lawyers' Committee for Human Rights (1999); das im Auftrag des Schweizerischen Komitees gegen die Folter entworfene Optional Protocol to the United Nations Convention Against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment (1989), das später von Costa Rica der UNO-Menschenrechtskommission unterbreitet wurde; schliesslich das Gutachten zuhanden des Forums gegen Rassismus über «Die flüchtlingsrechtliche Situation asylsuchender Roma und Aschkali in der Schweiz» (1999).
Erst angelesen haben wir dieses ausgedehnte Kapitel, das uns von Gemeinden und Kantonen über den Bund, das deutsche Bundesverfassungsgericht immer häufiger zum UNO-Hoch-kommissar für Menschenrechte bringt. Nicht übersehen sollten wir dennoch die jeweils konkreten und oft genug spannungsgeladenen politischen Situationen, die den Kontext für die Arbeiten von Walter Kälin bilden und zu dessen Ordnung und Bewältigung sie beitragen.

Nicht von ungefähr hat Kofi Annan, der Generalsekretär der Vereinigten Nationen, Walter Kälin am 21. September 2004 zu seinem Sondervertreter in Sachen Menschenrechte von intern Vertriebenen berufen. Es handelt sich bei diesen Vertriebenen, deren Anzahl jene der Flüchtlinge weltweit übertrifft, um Menschen, die zwar in ihrem angestammten Land verbleiben, jedoch gezwungen werden, ihre engere Heimat zu verlassen. Ihnen widerfährt Gewalt — Gewalt durch Kriege, durch Unterdrückung Mächtiger, durch Missachtung und Verletzung ihrer Rechte als Menschen; durch Katastrophen auch, herbeigeführt durch die Natur oder durch Planungen von Menschen — von grossen Infrastrukturen, gewaltigen Staudämmen etwa. Ihr Leiden dringt wenig nach aussen, entsprechend willkürlich wird oft genug mit ihnen verfahren, ihre Würde mit Füssen getreten. Internationale Verträge, die ihnen einen gewissen Schutz böten, existieren nicht; nicht einmal über Begriffe, geschweige denn über Rechte intern Vertriebener hat sich die Völkergemeinschaft bisher verständigt.
Die UNO-Menschenrechtskommission und später die UNO-Generalversammlung erteilten da-her dem damaligen Vertreter des Generalsekretärs für Binnenvertriebene, Francis M. Deng, den Auftrag, Grundsätze zum menschenwürdigen Umgang mit intern Vertriebenen zu entwickeln. Walter Kälin war von Anfang an in diesen heiklen und komplexen Prozess einbezogen; er hat ihn durch seine Führung wie durch seine Feder geprägt. Zum Erfolg verhalf ihm, einmal mehr, jener besondere Zug seines Wesens: die Kraft und das Geschick zum Eingehen auf die Perspektiven und Anliegen anderer; die Geduld zum Zuhören, die sich paart mit ausgesprochenem Lernwillen; die Fähigkeit zum Vermitteln, ohne Grundsätzliches zu verleugnen, um so Resultate durch Konsens zu erwirken.
Diese Fähigkeit macht ihn auch für verfeindete oder doch gegensätzliche Lager zum anerkannten, ja geschätzten Partner. Der offensichtliche Sinn für das politisch Mögliche — wir müssen es wiederholen — und entsprechendes Agieren gehören dazu. So war, was die zu findenden Leitplanken für den Umgang mit Binnenvertriebenen angeht, zu prüfen, ob zwingendes Recht oder bloss moralisch Verbindliches, das dem Gestaltungswillen der jeweils direkt Betroffenen Spielraum lässt — ihnen auch die Möglichkeit gibt, das Gesicht zu wahren — in Aussicht zu nehmen sei. Konkret ging es um die Frage, ob ein Vertragsentwurf oder ein Expertenbericht an die Hand genommen werden sollten. Die Wahl fiel auf den sanfteren, eben darum wohl wirkungsvolleren Weg. Dieser verbaute den interessierten Staaten die Möglichkeit, den anvisierten Schutzstandard zu senken, um sich nicht über den eigenen Willen hinaus binden zu müssen. Die Guiding Priciples an International Displacement, in einem über Jahre sich hinziehenden Verhandlungsprozess herangereift, verankert in den international anerkannten Menschenrechten wie im internationalen humanitären Recht, finden mittlerweile breite Anerkennung. Die UNO-Menschenrechtskommission betrachtet sie als Instrument des Vertreters des UNO-Generalsekretärs für Binnenvertriebene in seinen Verhandlungen mit Regierungen wie mit allen jenen, deren Mandate und Tätigkeiten sie auf Schutz und Nothilfe für diese Vertriebenen verpflichten, ob Regierungs- oder Nichtregierungsorganisationen bzw. Gruppen. Mehr noch: Das sogenannte Inter-Agency Standing Committee der UNO begrüsste die neuen Grundsätze und empfahl allen seinen Mitgliedern, sie ihren leitenden Ausschüssen vorzulegen, ebenso den Mitarbeitenden, vor allem jenen im Felde, für die Umsetzung in ihrer praktischen Arbeit zugunsten der intern Vertriebenen. Man muss diese Leitsätze lesen, um die Reichweite und die Tiefe ihrer Bedeutung für die Umsetzung der Menschenrechte, um ihr Gewicht für die Arbeit an Frieden zu ermessen. Hilfreich ist weiter, wenn man den diplomatischen Sprachgebrauch, dem sie verpflichtet sind, zu interpretieren weiss. Dann wird — immer vorausgesetzt, man hat die Kraft zur Hoffnung nicht verloren —ersichtlich, wie sehr das wissenschaftlich fundierte, im Herzen geborene und psychologisch wie politisch kluge Wirken von Walter Kälin, immer wieder, im Verein mit anderen, die faktische Wirkung der Menschenrechte entfaltet und fördert: Man wird sich darüber freuen, dass sämtliche Staatschefs in einer sogenannten Summit Declaration bekräftigten, die Leitprinzipien bildeten ein wichtiges internationales Rahmenwerk für den Schutz intern vertriebener Personen.

Schluss

Über Vieles wäre noch zu berichten. So etwa über das Engagement im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung, wo Walter Kälin die Expertenkommission für die Justizreform leitete; über seine Beiträge zu Problematik und Chancen der Schweiz in einem wirtschaftlich, kulturell und politisch integrierten — das heisst nicht etwa vereinheitlichten — Europa; über sein Vermögen, sich in angestrengter Arbeit beinahe zu erschöpfen und daran immer noch das zu finden, was wir, etwas burschikos, Plausch nennen; über sein Leben in der Gemeinschaft seiner vierköpfigen Familie, wo er mit seiner Frau Roswitha, einer aktiven Pharmazeutin, den Einsatz für das Gemeinsame ebenso teilt wie die Lust an Freiraum und Autonomie — auch die Grossherzigkeit, die Voraussetzung dafür ist. Wir müssen uns mit einem letzten Hinweis begnügen, der freilich eine für die Menschenrechte, damit für den Frieden besonders bedeutsame, unter Akademikern keineswegs selbstverständliche Leistung betrifft. Die Rede ist vom Auftreten in der Öffentlichkeit, von Stellungnahmen und Kommentaren zu aktuellen Fragen von allgemeinem Interesse in verschiedenen Medien. Da ist von einem Elfenbeinturm nichts zu spüren, viel jedoch von einem klaren Willen, Erarbeitetes und Gefestigtes zur Meinungs- und Willensbildung in der Gemeinschaft beizusteuern — nicht autoritär, doch als wichtigen, mit gehöriger Bescheidenheit gelieferten Faktor des freiheitlich-politischen Prozesses. Kälins Beitrag ist zwar skeptisch unterfüttert, auch wohl aus eher pessimistischem Hintergrund erwachsen. Er ist darum nicht weniger aufrichtig und wird im Hinblick auf Verständigung eingebracht. Daran, am als unverhandelbar Begriffenen und Deklarierten festhalten zu wollen, ändert sich nichts. Freilich bleibt auch hier noch das Unverhandelbare, so paradox dies klingen mag, dem Diskurs und der Hoffnung auf schliessliche Übereinstimmung ausgesetzt.
Jüngstes Beispiel ist das lehrreiche, mit Lars Müller und Judith Wyttenbach herausgebrachte Buch über «Das Bild der Menschenrechte».9 Es ist in der Tat ein Buch der Bilder, dann des Wortes, des Wissens und des Herzens, aber auch der Freude und des Vergnügens. Nach den heutigen Regeln der graphischen Kunst, unter geschickter Nutzung der vielfältigen Kraft der Bilder, mit besonderem didaktischem und methodischem Geschick aufgelegt, bietet es eine umfassende, oft ungewöhnliche, jedoch systematische und analytisch geschärfte Einführung in Theorie und Praxis der Menschenrechte — in die Praxis sowohl der Feier als auch der Verletzung dieser dem Schutz aller Einzelnen anheimgestellten und international verbürgten Rechte. Einer breiten Leserschaft zugedacht, wurde es mit entsprechender Begeisterung aufgenommen. Der «Globalist» in Washington etwa—das Buch erschien als «The Face of Human Rights» auch in englischer Sprache — schrieb von einem «rich and in depth photo and textual account of celebrations and violations of human rights, revealing the humanity and insanity in the world. [... this book is a haunting reminder that although the need for human dignity does not change — people can». — Den Schluss aus dem enleitenden Kapitel, das Walter Kälin unter die Frage stellte, «Was sind Menschenrechte?», möchte ich Ihnen vortragen. Die zwei Abschnitte illustrieren hervorragend, was unseren Laureaten in seiner Arbeit antreibt, worum es ihm zu tun ist:
«Mit der juristischen Verankerung der Menschenrechte in den Konventionen der UNO und der regionalen Organisationen hat die Staatengemeinschaft einen grossen Schritt vorwärts gemacht. Dank dieser Vertragswerke besitzt die Menschheit heute verbindliche Massstäbe, an welchen sich die Staaten messen lassen müssen. [
Notwendig bleibt allerdings der Wille der Staaten und der internationalen Organisationen, diese Grundsätze auch wirklich durchzusetzen und gegen Verletzer unabhängig von Erwägungen politischer oder wirtschaftlicher Opportunität vorzugehen. Wir alle sollten uns wieder vermehrt bewusst werden, dass sich die Menschenrechte nicht automatisch verwirklichen. Ob nun Menschen frei und gleich geboren werden oder nicht, in jedem Fall hängt ihre Freiheit und Gleichheit konkret davon ab, in welchem Ausmass Behörden und Private die Botschaft der Menschenrechte ernst nehmen. Menschenrechte sind mit anderen Worten nicht einfach vorgegeben, sondern sie müssen erarbeitet werden. Ohne den Einsatz von Menschen für ihre Mitmenschen, ohne das Mitgefühl für ihre Leiden und Solidarität mit den Opfern, ohne den Aufschrei des Protestes gegen Unterdrückung und Missachtung der Menschenwürde und ohne den beharrlichen Ruf nach mehr Gerechtigkeit lässt sich unsere Welt letztlich nicht befrieden.»
Im Epilog zu seinen 1931 veröffentlichten Erläuterungen «Aus meinem Leben und Denken» beklagt Albert Schweitzer den Verlust des selbständigen Denkens und die Vereinnahmung der Einzelnen durch staatliche, soziale und andere Gemeinschaften. «In einer Zeit,» so schreibt er, die «sogar über die im 18. Jahrhundert erfolgte Aufstellung von Menschenrechten spottet, bekenne ich mich als einen, der sein Vertrauen in das vernunftmässige Denken setzt»" Wir wissen, dass für den grossen Elsässer das Denken nicht zu Formen der Wahrheit gelangt, die ein für allemal gelten; dass «alle bleibend wertvollen Ideen in dem Denken stets von neuem geboren werden» müssen, wie ja auch ein «Baum Jahr für Jahr dieselbe Frucht, aber jedesmal neu bringt». Und wir wissen weiter, nicht weniger wichtig, dass für Schweitzer Denken und Handeln Hand in Hand gingen, dass — zwar unerlässliches — Denken ihm als fruchtbar nur galt, wenn es sich im umsichtigen, klugen, situativ angemessenen und massvollen Tun bewährt. In einem Tun allerdings, das, wir hörten es eben, sich an nicht verhandelbaren Werten und daraus entspringenden Normen ausrichtet.
Die Stiftung Brandenberger ehrt Walter Kälin in der Meinung, er habe sich seit Jahrzehnten mit mittlerweile weltweiter Wirkung diesen Aspekt verantwortungsvollen Daseins zu eigen gemacht. Seine Arbeit früher, heute und auch künftig soll uns helfen, jenen gut zweitausend Jahre alten Satz aus dem Mahábhárata zu beherzigen und in unserem Alltag praktisch werden zu lassen, der da lautet: «Je vous annonce ici cette doctrine secrète: rien, en vérité, n'est plus excellent que I'humanité.»


Der Kampf um die Menschenrechte

Walter Kälin

«Das Leben des Rechts ist ein Kampf—ein Kampf der Völker, der Staatsmacht, der Klassen, der Individuen. In der Tat hat das Recht eine Bedeutung nur als Ausdruck von Konflikten, und es stellt die Anstrengung der Menschheit dar, sich selbst zu zähmen.»
Als der deutsche Rechtsgelehrte Rudolf von Jehring 1872 in seinem berühmten Wiener Vor-trag «Der Kampf ums Recht» mit diesen Worten zeitgenössischen Vorstellungen über die Existenz von in der Geschichte verankerten und dem «Volksgeist» offenbarten objektiven Rechtsprinzipien eine Absage erteilte, wollte er nicht einem Sozialdarwinismus das Wort reden, sondern betonen, dass rechtliche Werte und Ordnungsprinzipien Ergebnis konkreter historischer Auseinandersetzungen sind, in welchen sie sich durchsetzen müssen. Der «Zweck im Recht» (Bd. I 1877: II 1883), den es zu erkämpfen gilt, ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit, wie sie sich in den menschlichen Rechtswerten ausdrückt.
Die Menschenrechte, wie wir sie heute kennen, sind aus solchen Kämpfen hervorgegangen, und sie bilden nach wie vor Teil der Auseinandersetzung um das Recht.
Der Kampf um die Menschenrechte ist in vielen Foren und auf verschiedenen Ebenen erfolgreich gefochten worden. Seit Ende des 18. Jahrhunderts die amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen, um die Revolution gegen den König von England und die französische Aristokratie moralisch legitimieren zu können, kühn, aber entgegen aller gesellschaftlichen Realität behauptet haben, der Mensch sei frei und gleich geboren und besitze unveräusserliche
 
Rechte, haben die Menschenrechte einen da-mals nicht vorhersehbaren weltweiten Siegeszug angetreten. Lange nur in den staatlichen Verfassungen verankert, machten die Katastrophen des Ersten und mehr noch des Zweiten Weltkrieges deutlich, dass der Entscheid darüber, ob und wie weit in einem Land die Rechte aller Menschen, auch jene unliebsamer Minderheiten, gelten sollen, nicht dem souveränen Entscheid der Staaten überlassen bleiben darf. Deshalb wurden sie nach dem 2. Weltkrieg international verankert auf der Ebene der UNO, der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 und den vielen darauf abgestützten Menschenrechtserklärungen der UNO, in Europa vor allem in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950. Seit dem Fall der Berliner Mauer sind diese Verträge von einer Mehrheit der Staaten ratifiziert worden, und es gibt kein Land mehr. das nicht zumindest eine der Konventionen akzeptiert hat. Mit dem lndividualbeschwerdevertahren an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und die Vertragsausschüsse der UNO stehen heute den Opfern Instrumente zur Verfügung, um sich oft erfolgreich willkürlicher Staatsmacht entgegen stellen zu können. Bei allen Verletzungen, über die uns die Medien täglich informieren, müssen, dürfen wir nicht die Fortschritte verkennen, die in den letzten Jahrzehnten erzielt worden sind. Dank der verschiedenen Vertragswerke besitzt die Menschheit heute verbindliche Massstäbe, an welchen sich die Staaten messen lassen müssen. Keine Regierung der Welt kann heute noch behaupten, es sei ihre rein interne Angelegenheit, wie sie Individuen und religiöse, ethnische oder sprachliche Minderheiten behandle.

Trotz der Schwierigkeiten, sich in historisch und kulturell sensiblen Bereichen auf universelle Standards zu einigen, ist der Kernbereich des Menschenrechtsschutzes heute unbestritten. Auch praktisch ist das Erreichte bedeutsam: Die Todesstrafe wird in der grossen Mehrzahl der Länder nicht mehr verhängt oder ist gar abgeschafft; es gibt heute noch politische Prozesse, weniger politische Gefangene, mehr demokratische und freie Wahlen als damals, und unabhängige Me-dien können sich heute in vielen Ländern frei äussern, in welchen sie damals nicht existieren konnten. Die Gleichstellung der Frauen ist zwar nicht voll verwirklicht, aber ihre Diskriminierung hat, wenn auch nicht überall, so doch in grossen Teilen der Welt massiv abgenommen. Nicht staatliche Organisationen wachsen und blühen heute in den entlegensten Teilen der Welt.
Der Kampf um die Menschenrechte dauert an. Trotz aller Erfolge bleiben die Probleme riesig und die Zahl der Verletzungen inakzeptabel. Zu den grössten Herausforderungen für die Menschenrechte zählen heute ihre Anfechtung durch Terrorismus, die Frage ihrer universellen Geltung und ihre Gefährdung durch das Zerfallen der Staatsmacht.

(1) Die Anfechtung des Terrorismus: Terrorismus. d. h. die willkürliche Tötung und Verstümmelung unbeteiligter Menschen zu politischen Zwecken, ist in sich die totale Negierung der Menschenrechte, weil sie die Opfer zu reinen Objekten und Instrumenten herabwürdigt. Entschlossenes Vorgehen gegen Terroristen dient deshalb auch dem Schutz der Menschenrechte. Gefahr droht allerdings dort, wo der Kampf gegen den Terrorismus sich Mittel bedient, die sich jenen der Terroristen annähern, weil sie ebenfalls die Menschenwürde negieren. Wenn wir der Versuchung nachgeben, lange Haft ohne gerichtliche Überprüfung, das Verschwindenlassen von Personen in geheimen Gefängnissen oder gar die Folter als Mittel zu rechtfertigen, die durch den Zweck geheiligt werden, haben Fundamentalismus und Terrorismus jeglicher Herkunft ihr Ziel erreicht, die Wertordnung zu untergraben, auf welcher freie und demokratische Gesellschaften beruhen.

(2) Die Herausforderung der Universalität: Die Menschenrechtsidee stammt aus dem europäischen Kulturraum. Ihr wird deshalb oft entgegen gehalten, sie sei kulturell einem engen Raum verhaftet und könne nicht für sich beanspruchen, weltweit und über die Kulturgrenzen hinweg für sich Gültigkeit zu beanspruchen. Dem lässt sich natürlich entgegnen, es sei nicht haltbar zu behaupten, gegenüber willkürlicher Staatsmacht könne keinerlei Ansprüche auf Schutz vor Folter, Respektierung des eigenen Glaubens oder Nichtdiskriminierung erheben, wer mit dunkler Haut geboren sei. Trotzdem darf der universelle Gültigkeitsanspruch der Menschenrechte nicht naiv vorausgesetzt werden. Vielmehr muss die Universalität der Menschenrechte im Prozess der Konsensbildung hergestellt werden. Dabei sind wir, wie nicht nur die weltweite Ratifizierung von Menschenrechtsverträgen, sondern auch die Universalisierung des Menschenrechtsdiskurses zeigen, weit vorangeschritten. Der wachsende weltweite Konsens in Menschenrechtsfragen besitzt tiefgreifende Wurzeln: Ansatzpunkte für die Konsensbildung sind z.B. ähnliche Unrechtserfahrungen von Opfern, kulturelle Konzepte, die verschiedenen Kulturen jenseits aller Unter-schiede gemeinsam sind, die Globalisierung der Modernisierungsprozesse und der Ausbreitung des westlichen Staatsmodells sowie gemeinsame (langfristige) Interessen der Staaten und der Staatengemeinschaft selbst, welche von der Friedenssicherung bis hin zum Interesse an Stabilität als Voraussetzung für wirtschaftliche Investitionen reichen können. Konsensbildung in Menschenrechtsfragen über die Grenzen der verschiedenen Kulturen hinaus hat eine Chance: Gesellschaften und ihre Kulturen sind nicht statische Grössen, sondern sie wandeln sich ständig und beeinflussen sich gegenseitig. Der Versuch eines interkulturellen Dialogs ist deshalb nicht sinnlos, sondern angesichts einer Welt, die immer vernetzter wird, letztlich überlebensnotwendig.

(3) Die Gefährdung durch den schwachen Staat. Nazismus, Stalinismus, Maoismus und andere in totalitären Ideen verankerte Regimes und die Militärdiktaturen in Südeuropa, Lateinamerika und weiten Teilen von Afrika und Asien, d.h. die ungehemmte Ausübung zu starker Staatsmacht waren lange Zeit die Hauptgefahr für die Menschenrechte. Die Massaker in Bürgerkriegen, die Grausamkeiten von Warlords, aber auch die Versklavung und sexuelle Ausbeutung durch kriminelle Organisationen, welche Frauen- und Kinderhandel betreiben, zeigen, dass heute die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen oft von nichtstaatlichen Akteuren verübt werden. Sie treiben ihr Unwesen, wo staatliche Strukturen geschwächt sind oder, wie in den sogenannten «failed States», ganz zerfallen. Aber auch funktionierende Staatswesen bezeugen zunehmend Mühe, den Opfern privater Übergriffe Schutz zu gewähren.

Der Kampf um die Menschenrechte wird nicht mit Kanonen und Armeen gefochten, sondern mit feiner Klinge ausgetragen. Er ist erfolgreich, wo er auf die Kraft der Überzeugung und des besseren Argumentes setzt, und wo er die Mittel der stillen Diplomatie mit jenen des öffentlichen Aufschreis und Drucks optimal zu verbinden weiss. Diese Arbeit braucht den langen Atem und die Geduld, am Detail zu arbeiten, um die kleinen Schritte zu erzielen, die am Ende zum Erfolg führen. Der zivilisatorische Fortschritt, den die Menschenrechte bringen, ist nur so solide wie der Konsens, der ihn trägt. Dieser Konsens muss immer wieder neu erzielt werden.

Der Kampf um die Menschenrechte braucht Mittel und Unterstützung, und damit komme ich zum Preis: Der indische Sozialphilosoph Pannikar, in einem bemerkenswerten Text zur Kritik des westlichen Menschenrechtsverständnisses, betont die Notwendigkeit, zwischen «Individuum» und «Person» zu unterscheiden, und er fährt fort: «Das Individuum ist nur eine Abstraktion, d.h. Auswahl einzelner Aspekte der menschlichen Person für praktische Zwecke. Meine Person ist demgegenüber auch in «meinen» Eitern, Kindern, Freunden, Feinden, Vorfahren und Nachfahren enthalten». Wenn Pannikar recht hat. dann ist «mein» Preis auch eine Auszeichnung für meine Eltern, ohne die ich nicht wäre, was ich heute bin; eine Anerkennung für meine wundervolle Familie, ohne deren Verständnis und Toleranz ich nicht tun könnte, was ich tue; ein Lob für meine weitsichtigen Lehrer, ohne deren Anleitung ich die Wege nicht gefunden hätte, die sie mir gewiesen haben; eine Ehrung für meine unermüdlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Washington, ohne die alle die grossen Herausforderungen nicht zu bewältigen wären, denen ich mich offen stellen muss; und ein Ansporn für all jene in Verwaltung, Regierung und Organisationen, ohne deren politische und materielle Unterstützung ich meine Arbeit nicht leisten könnte. Der Preis ehrt aber auch die Dr. J.E. Brandenberger Stiftung, welcher ich mich besonders verbunden fühle, weil ich in ihren Anfängen selbst Mitglied der Preiskommission war. Wenn sie, wie der Stiftungszweck es ausdrückt, mit der Preisverleihung an mich Leistungen auf dem Gebiete der Förderung und «der Erhaltung der humanitären Kultur» die Wertschätzung erweist, trägt sie das ihre zum Kampf um die Menschenrechte bei. Die ideelle und materielle Unterstützung ermöglicht mir, neue Projekte im Bereich der Menschenrechte zu starten und damit weiterhin Mitstreiter im Kampf um die Menschenrechte zu sein. Vergessen wir nicht: Menschenrechte verwirklichen sich nicht automatisch. Ob nun Menschen frei und gleich geboren werden oder nicht, in jedem Fall hängt ihre Freiheit und Gleichheit konkret davon ab, in welchem Ausmass Behörden und Private die Botschaft der Menschenrechte ernst nehmen. Menschenrechte sind mit anderen Worten nicht einfach vorgegeben. sondern sind uns aufgegeben.

Ich danke Ihnen.