2004 Benediktinische Schwesterngemeinschaft des Klosters St. Johann zu Müstair

Die im letzten Viertel des 8. Jh. erbaute monumentale Klosteranlage ist eine Stiftung Karls des Grossen oder eine karolingisch beeinflusste Gründung des Bistums Chur. Ursprünglich eine Benediktinerabtei, übernahmen die Benediktinerinnen das Kloster im 12. Jahrhundert. Die Benediktinerinnen von St. Johann befinden sich seit Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts in einem steten Konflikt zwischen der Verfolgung des eigenen Lebensentwurfs — der Führung des monastischen Lebens im Gebet und in der stillen, zurückgezogenen Arbeit — und der Aufgabe, die 1200 Jahre alte kulturhistorisch bedeutsame Klosteranlage für die Nachwelt durch die Gestattung langwieriger Restaurationsarbeiten zu erhalten. Sie haben sich in verdienstvoller Weise damit einverstanden erklärt, eine Jahrzehnte dauernde Verletzung der Klausur und Störung der Kontemplation hinzunehmen, ihre Wohn—, Bet- und Arbeitsräume nach den Bedürfnissen von Restauratoren und Kunsthistorikern immer wieder zu verlegen und damit die Interessen der Nachwelt über die eigenen zu stellen. Die Benediktinerinnen waren auch bereit, mit der Schaffung eines neuen Museums im Plantaturm — mitten in der Klausur — kostbare Schätze, die bis in die karolingische Zeit zurückreichen, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und damit auf einen Teil der Klausur, der ihnen viel bedeutet hatte, auf lange Zeit zu verzichten.

 

In Würdigung des unauffälligen, selbstlosen, anonymen, aber zugleich entscheidenden Beitrages zur Freilegung, Restaurierung und Zugänglichmachung der einzigartigen kunsthistorischen Schätze ihrer Kirche und ihres Klosters.

 

Laudatio

Pio Caroni

<Gratwanderung>: dies ist tatsächlich das erste Wort, das mir zum Thema einfällt. Eigentlich hätten sich eher andere Worte, andere Begriffe und Vorstellungen einstellen sollen. Nicht nur, weil sie vielleicht einen feierlicheren Einstieg in diese laudatio geboten hätten, sondern auch, weil sie eine direktere, greifbarere Beziehung zum einzigartigen Raum hergestellt hätten, in dem wir hier uns befinden. Karl der Grosse etwa, dessen
 
Statue uns anblickt und der von Anfang an und vielfältig mit der Geschichte dieser Kirche und dieses Klosters verbunden gewesen ist. Karl der Grosse, den man heute gerne wieder als pater Europae feiert, was freilich auch nicht unproblematisch ist. Die Frage allerdings wäre, ob uns solche historischen Verknüpfungen aber nicht eher ablenken würden. Lassen wir also lieber unseren Kaiser Kaiser sein.

Da bietet sich als zweiter Einstieg jemand an, der unter diesem Dach ganz anders gegenwärtig ist. Ich meine den heiligen Benedikt von Nursia (Norcia), dem soeben sogar die Ehre widerfuhr, im neuen Buch des Amerikaners Jeremy Rifkin «Der europäische Traum» gewürdigt zu werden. Auch er ist schliesslich immer wieder als pater Europae gefeiert worden, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil er im 6. Jahrhundert das orientalische Mönchtum sozusagen europäisiert, d.h. hierzulande heimisch gemacht hat. Es wäre jedenfalls nicht ohne Sinn, wollten wir uns an den Verfasser der Regula monasteriorum halten. Vielleicht aber auch unklug, weil es die alte Streitfrage aufleben liesse, ob nicht auch die Wüstenväter zu unserer Tradition und Kultur gehörten, in diesem Sinne doch auch Europäer, vielleicht Europäer ante literam gewesen sind.
Bleiben wir also lieber bei unserer «Gratwanderung». Auch aus dem nahe liegenden Grund, dass eine Stiftung, deren Preisträger sich unter grösstem persönlichen Einsatz um das Wohl der Menschheit verdient gemacht haben, in ihrer Arbeit, d.h. bestimmungsgemäss mit «Gratwanderungen» zu tun haben. Als solche können nämlich mit Fug und Recht die persönlichen Abenteuer der bisherigen Preisträger bezeichnet werden. Sie zeugen vom unbeirrbaren Mut der Aussteigerin, der zukunftsgerichteten Weitsicht des Wegweisers, der hartnäckigen Entschlossenheit des Kämpfers, vom hochherzigen Idealismus und der Voraussicht der Visionärin. Von einer rast- und selbstlosen Tätigkeit als Lebensaufgabe, die sich offensichtlich nicht ganz oder überhaupt nicht nach gewöhnlichen Schemen und Massstäben entfaltet, folglich auch immer wieder in Kollision tritt: mit eingefleischten Vor-urteilen, mit dem angeblichen Zwang ökonomischer Gesetzmässigkeiten, mit der satten und bequemen Routine der Privilegierten wie mit der bitteren Resignation und Verzweiflung der Unterlegenen. Werden solche Lebensläufe als «Gratwanderungen» charakterisiert, so nicht zuletzt zur Veranschaulichung ihrer Andersartigkeit, d.h. ihrer Alternativität. Die Menschen, die uns als Preiskommission bisher beeindruckten und die wir deshalb auszeichneten, waren zwar genauso aktiv, tatendurstig und effizient wie wir auch. Aber ihre Effizienz, ihr Leistungsdrang, ihr Durchsetzungsvermögen entsprangen einem anderen «Programm», gehorchten einem anderen Schema, standen im Dienste qualitativ anderer, weil vorwiegend einem Mehrwert an Humanität verpflichteter Ziele.

Zum heutigen Anlass, zu dieser Preisverleihung, die sich in einem ganz anderen Rahmen als bisher üblich abwickelt und die in ihrer Art wohl einmalig bleiben wird, zu diesem Anlass hat allerdings auch eine ganz andere Gratwanderung geführt. Ich meine eine solche der Stiftung und ihrer Organe. Denn beim Nachdenken über die Kandidatur von Müstair sind wir erstmals einer anderen Welt begegnet, jener Welt nämlich, die Sie, verehrte Frau Priorin, und Sie, verehrte Schwestern, so glaubwürdig und eindrücklich verkörpern. Von der sie uns daher aus eigener Erfahrung berichten können, woraus sie besteht, was ihren Kerngehalt ausmacht und warum sie uns zuerst so undurchdringlich erscheint: eine Welt der Stille und des Schweigens, aber doch nicht der fehlenden oder unterdrückten, sondern bloss einer anders gestalteten Kommunikation; eine Insel der Immobilität und Zurückgezogenheit, die kaum in Erscheinung tritt, sich weder aufdrängt noch inszeniert; eine Gemeinschaft, die nach einer anderen Uhr lebt und sich anderen Idealen, Werten und Gesetzen verschrieben hat, als sie draussen üblich sind. Die folglich auch keine Lobby hat und die, wenn es ginge, immer noch nach dem wirtschaftlichen System der Selbstversorgung überleben würde. Eine Welt, die bislang innerhalb der Stiftung so gut wie nie wahrgenommen wurde, deren blosse Entdeckung allein schon Ueberraschung, Neugierde, Interesse ausgelöst hat. Aber eben nicht nur. Weil darüber hinaus die noch seltenere Frage zu beantworten war, inwieweit diese andere Welt für die Stiftung relevant ist bzw. «Leistungen» erbracht hat, die sie für eine Auszeichnung prädestinierten.
Jahrein jahraus versuchen die Organe der Stiftung, den sehr umfassend formulierten Stiftungszweck auf ein je anderes Gebiet menschlichen Wirkens zu fokussieren, das jeweils näher zu berücksichtigen ist. In diesem Jahr hiess das Thema «Gestaltete Welt — Bauen für Menschen». Freilich ist auch nach dieser Eingrenzung das Spektrum der in Betracht kommenden Bereiche und der möglichen Interpretationen unermesslich breit geblieben. Es reichte von den grossartigen Schöpfungen der modernen Architektur (für die es hierzulande tatsächlich mehrere und bemerkenswerte Beispiele gibt) bis zu Bauten, die ausserordentliches planerisches Schaffen verrieten; von bereits ausgeführten Arbeiten bis zu ausgearbeiteten Entwürfen, sofern sie dem Grundanliegen der Stiftung entsprachen und einen «Gewinn an Humanität» versprachen, wie es die Stiftungsurkunde verlangt.
Obwohl es tatsächlich an durchaus beachtlichen Vorschlägen nicht gefehlt hat, ist die Stiftung diesmal nicht darauf eingegangen und hat es vorgezogen — die sehr weite Formulierung beanspruchend —, Verdienste zu berücksichtigen, die zwar einschlägig sind, sich allerdings nicht von vornherein aufdrängten. Um was es der Stiftung im Ergebnis ihres Reflektionsprozesses geht, fasst die offizielle Würdigung — die bei der Preisverleihung gleich zu hören sein wird — in Worten zusammen, die nicht nur wohlklingend, sondern vor allem wahr sind. Von einem unauffälligen und selbstlosen Beitrag der Konventgemeinschaft wird die Rede sein, ohne welchen die Freilegung, Restaurierung und Zugänglichmachung der einmaligen kulturhistorischen Schätze dieser Kirche und dieses Klosters nicht möglich gewesen wären. Worin dieser Beitrag konkret besteht, warum er geleistet wurde, wie er sich auf das Leben der Gemeinschaft auswirkte, wird gleich die Priorin der ausgezeichneten Gemeinschaft aus eigener Erfahrung berichten.
Ich selber möchte dazu bloss folgendes sagen: Leistungen, Opfer und Verzichte fallen gleich-mässig darunter. Die Leistungen sind möglicherweise beinahe schon vergessen worden. Wer erinnert sich etwa noch an die aktive Mitwirkung der Schwestern bei der Freilegung der karolingischen Fresken anlässlich der Kirchenrenovation 1947-1950? Was Opfer und Verzichte anbelangt, so erscheint deren Tragweite meist kaum erwähnenswert, jedenfalls dann, wenn man übliche und gängige, in diesem Sinne traditionelle Beurteilungskriterien an den Tag legt. Wem mag etwa die jahrelange Beeinträchtigung der Klausur und der Stille als schwerer Eingriff, gar als rücksichtslose Zumutung erscheinen? Und wer ahnt die Tragik des Zielkonfliktes zwischen Stille und Klausur einerseits, Tourismus/Grabungen/ Restaurierung andererseits. der jahrelang tobte? Eine ebenso alte wie bittere und unwiderlegbare Wahrheit scheint sich dabei zu bestätigen: Wer nicht zum Kreis jener Menschen gehört, die von einer Entwicklung direkt betroffen werden, und wer auch sonst nicht auf deren Seite steht und deren Wellenlänge teilt, der mag die Tragweite eines zugemuteten Verlustes, wie auch die Schwere einer oft ahnungslos zugefügten Demütigung, kaum richtig zu erkennen.
Umso grösser ist darum die Genugtuung, die die Stiftung heuer empfindet. Genugtuung darüber, dass durch ihre eigenwillige Entscheidung heute einer Klostergemeinschaft, einer geachteten, glaubwürdigen, ja auch geliebten Verkörperung dieser von mir evozierten anderen Welt, endlich die gebotene Reverenz erwiesen wird. Wir tun es gerne, wir sind gerne hierher gekommen, wir schätzen auch ungemein das Geschenk, das man uns gemacht hat, in dieser geheimnisvollen Kirche, die auch eine ideelle Brücke in eine vielfältige Vergangenheit schlägt, tagen zu dürfen, weil wir auf unserer eigenen Gratwanderung für einmal die Werte dieser anderen Welt, deren reale wie symbolische Tragweite zu erkennen vermochten. Und weil uns dabei überraschend und mit grosser Genugtuung die Augen dafür aufgingen, dass man sich um das Wohl der Menschen auch verdient machen kann, ohne aktiv in der Welt zu wirken, folglich ohne eindeutig messbare äussere Spuren zu hinterlassen. Schliesslich auch deshalb, weil damit nicht zuletzt der Wirkungshorizont der Stiftung durchaus im Sinne ihrer Stifterin um eine Dimension erweitert worden ist.

Eine Gratwanderung also, die uns alle bereichert hat. Und im Anschluss daran eine Begegnung, die heutige Begegnung, die ich — sowohl im Namen der Stiftung als auch im eigenen Namen — mit folgenden Worten kommentieren möchte, bevor es zur Preisverleihung kommt:
Jeder kehrt nach der heutigen Zusammenkunft wieder in die eigene Welt zurück, aber wir wissen endlich voneinander, und das mag die Einsamkeit, in der letztlich doch jeder von uns lebt und die jeder von uns auf seine Art erlebt, bestimmt erträglicher gestalten. Danke.


«Der Plantaturm denkt: welche Attraktion!»

Priorin Sr. Pia Willi

Ich möchte Ihnen nochmals meinen ganz herzlichen Dank aussprechen — einerseits für die Überraschung, dass wir den grosszügigen Betrag Ihrer diesjährigen Preisverleihung, den ich soeben aus Ihren Händen empfangen durfte, zugesprochen bekamen und der uns natürlich hochwillkommen ist, und anderseits auch für die feinsinnigen und verständnisvollen Worte von Herrn Professor Doktor Caroni. Es tut uns wohl zu spüren, dass es in der Welt draussen so viel achtungsvolles Verständnis gibt für unsere doch so sehr andere Lebensart.

Nachdem Sie nun Kirche und Plantaturm gesehen haben, erzählen wir Ihnen ein wenig davon, wie wir Schwestern die Renovation erlebt haben. Am Ende des 2. Weltkrieges — ich war damals noch nicht im Kloster — fiel eine Bombe versehentlich gleich hier drüben, ennet dem Rombach, in den Wald. Durch die Detonation gingen uns alle Kirchenfenster kaputt. Das Kloster bekam später eine Kriegsentschädigung. Der damalige Spiritual, Pater Placidus Berther, entschied, das Geld für eine Kirchenrenovation zu verwenden, da sonst keine Mittel dafür da waren. Seit den Forschungen der Kunsthistoriker Josef Zemp und Robert Dürrer im Jahre 1894 wusste man, dass sich unter den meist blau und grün angestrichenen Wänden Fresken aus der karolingischen Zeit befinden.
Da das Geld knapp war, machten sich Pater Placi und die Schwestern, unter der Leitung von Restaurator Sauter, entschlossen an die Arbeit. Von älteren Mitschwestern hörten wir, wie es bei der Kirchenrenovation zuging. Sr. Dominica ist in Müstair aufgewachsen. Wir stellen ihr nun einige Fragen.

Wie sah die Kirche vorher aus?
Sr. Dominica: Die Wände waren mit blauer, grüner, etwas roter und weisser Farbe bestrichen. Die Säulen waren rötlich.

Wie sahen die Gerüste aus?
Sr. Dominica: Es waren rohe Holzstämme. Mit Hilfe von Ketten wurden die Gerüstbretter, auf denen die Schwestern stehen mussten, befestigt. Auf Leitern, nicht auf Treppen wie jetzt, musste man hochklettern und auf den schwankenden Brettern arbeiten.

Mit welchen Werkzeugen arbeiteten die Schwestern an den Fresken?
Sr. Dominica: Mit kleinen, feinen Messern — es waren Skalpelle, Chirurgenmesser und Spachteln — wurden die Farb- und die Putzschicht sorgfältig weggelöst, und zwar ohne die karolingischen Fresken darunter zu beschädigen. In einem Tag konnte man eine Fläche von der Grösse eines A4-Blattes freilegen. Am Morgen wurde pünktlich um 8.00 Uhr mit der Arbeit begonnen. Immer am Abend musste die Kirche von dem vielen Staub geputzt werden. weil in der Frühe der Gottesdienst für die Bevölkerung und die Schwestern gehalten wurde. Die Pfeiler, die das Gewölbe tragen, bereiteten eine besondere Mühe, weil die Farbe tief in den Löchern des «Rauhwacken» sass. Die Statue Karls des Grossen musste ebenfalls von den Farben befreit werden, was nur schwer gelang.

Welche Folgen hatte die Arbeit in der kalten Kirche für die Schwestern?
Sr. Dominica: Die Restaurierungsarbeit in der Kirche wurde jeweils von April bis November ausgeführt. Heizung gab es keine in der Kirche. Zwei Schwestern mussten diese Strapazen mit ihrer Gesundheit bezahlen. Sr. Scholastica musste wegen des vielen Staubs und der Kälte eine Lunge wegoperieren lassen. Sr. Gertrud litt lebenslänglich an rheumatischen Beschwerden. Die Kirchenrenovation dauerte von 1947-1951. Also vier Jahre arbeiteten die Schwestern an der Freilegung der karolingischen und romanischen Fresken.

Als im Jahre 1963 Pater Thomas Häberle unser Spiritual wurde, musste er feststellen. dass das Kloster sehr baufällig, ja eigentlich verlottert war. Die Dächer waren wasserdurchlässig. Wenn es windete, rieselte in den Zimmern Sand von der Decke auf unsere Betten. Überall waren Risse in der Decke und in den Wänden, die wir jedes Jahr mit Klebstreifen zu schliessen versuchten. Die Fenster lotterten. Bei Regenwetter musste Sr. Theresia im Bett einen Schirm aufspannen, und wir mussten Kessel unter die tropfenden Decken stellen.
Wir hatten ein einziges Brünneli mit Kaltwasser und nur ein WC für vierunddreissig Schwestern. Die Böden schaukelten, und es war sehr schwierig, Möbel so zu stellen, dass sie sich nicht bei jedem Schritt bewegten.

1967 gab es dann eine Abstimmung: Wollen wir unter Denkmalschutz? Dafür sprach, dass wir dann Subventionen für die dringenden Renovationen bekommen würden. Demgegenüber stand die Angst, dass unser stilles Klosterleben durch die Arbeiten gestört, wenn nicht gar verunmöglicht würde. Trotz dieser Bedenken entschied man sich für den Denkmalschutz. Zwei Jahre darauf hielten die Archäologen Einzug bei uns.
Nun begann ein langer und schwieriger Prozess, in dessen Verlauf beide Seiten Schritt für Schritt lernen mussten, miteinander umzugehen. Wir waren sorgfältig darauf bedacht, unsere Privatsphäre zu verteidigen, während wegen der notwendigen Messungen plötzlich überall im Kloster, sogar in der Klausur, Fremde auftauchten, dazu noch Männer, zum grossen Entsetzen der Schwestern. Des Weiteren klappte die Kommunikation in den ersten 15 Jahren überhaupt nicht: Wir wussten nie, was wo wann passierte.
Eines schönen Tages kam uns in einem unserer langen Gänge eine gewaltige Wolke aus dichtem Staub entgegen gekrochen. Was war denn das? Nun. im Südtrakt, in einem bewohnten Raum —mit Teppichen und Möbeln — hatten Arbeiter ohne Vorwarnung mit Bohren begonnen. Wir hatten nicht die geringste Chance gehabt, alles rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Es war äusserst mühevoll, nachher die dicke Staubschicht aus dem möblierten Zimmer zu entfernen. Mit einem kurzen Hinweis hätte man uns diese Arbeit ersparen können. Solche Vorkommnisse gab es immer wieder, und die Putzerei hatte kein Ende. Mitte der 80er Jahre kam Dr. Franwis Guex als Leiter der archäologischen Grabungen zu uns. Er organisierte klar abgegrenzte Bereiche für die Grabungen und Forschungen mit Hilfe von Staubwänden. Seither ist diese Ordnung, die vieles erleichterte, eingehalten worden.
In den langen Jahren wurden viele Klostergebäude restauriert. Raum für Raum wurde saniert und den heutigen Verhältnissen und Bedürfnissen angepasst. Wir verfügen über eine modern eingerichtete Küche, eine ebensolche Wasch-küche, auch hat jede Schwester ein Lavabo mit fliessend Kalt- und Warmwasser in ihrem Zimmer. Die Pläne und das Vorgehen werden besprochen und umsichtig organisiert. Bis dahin war es aber ein langer und beschwerlicher Weg, der — sicher für beide Seiten, aber besonders für uns Schwestern — nicht einfach war. Das hat Professor Caroni ja auch ganz treffend formuliert.

Nun zum Thema «Plantaturm»

Unser Restaurator Oskar Emmenegger und auch Ingenieur Fredi Schneller warnten die Denkmalpflege und die Baukommission mehrmals: Der Plantaturm sei einsturzgefährdet! Diese Warnungen wurden nicht ernst genommen, da der Turm 1.50 m dicke Mauern hat. 1996 stürzte im nahen Burgeis die Fürstenburg ohne äussere Ursache zusammen. Nun wurden vier Altbauingenieure zusammengerufen, für eine Untersuchung der Situation «Plantaturm». Sie erklärten den alten Turm als sehr gefährdet. 1997 erhielt der Plantaturm ein Eisenkorsett. Die Stiftung Pro Kloster Müstair hatte kein Geld für die nicht geplante Restaurierung dieses Turmes. Da kam die Idee auf, das im Westen geplante neue Museum aufzugeben und im Plantaturm ein Museum zu planen. Die Stiftung war überzeugt, für ein «Museum Plantaturm» Geld zu bekommen, jedoch nicht für den Plantaturm in unserer Klausur. Nun stand unsere Gemeinschaft vor einem schwierigen Entscheid: Sollten wir den Plantaturm, der mitten in der Klausur steht, in dem die Bibliothek mit etwa 14 000 Büchern unterbracht war, in dem viele Altertümer, zwei Magazine und auch der Wein- und Mostkeller waren, der Öffentlichkeit überlassen oder nicht? — Sr. Dominica hat mit Humor und Fantasie unsere damalige Situation in Versen zum Ausdruck gebracht. Sie liest Ihnen einen Auszug daraus vor:

«Mutter Pia hat viel Nüsse zu knacken
M W und M P und andre Baracken.
Museum im Westen, Museum im Ost ...
da kann der Architekt noch schwitzen, prost!

Die Ferien am Meer wurden ihm fast zur Plage:
er denkt an den Plantaturm alle Tage.
Doch auch Dr. Fulda denkt ständig daran,
drum fliegt schnell sein Brief aus Zürich heran.

Auch der Herr Anderau hat keine Ruh
und denkt an den Plantaturm immerzu.
Doch auch wir Schwestern sind stets am Studieren,
der Turm verfolgt uns sogar beim Psallieren.

Wir lieben den «alten Kumpel» so sehr,
ihn einst zu verlieren, das fällt wirklich schwer!
Er stand neben uns alle Jahre und Tage
und tat seine Pflicht ohne Jammer und Klage.

Er war so geduldig und ruhig und still,
der einsame Turm in seinem Idyll.
Doch jetzt sollen wir uns von ihm trennen —
oh nein, das geht nicht ohne Klagen und Flennen.

Wir reden und denken bald dies und bald das,
am Ende, da wissen wir nicht mehr was.
Da kommt ein Erzengel vom Himmel geflogen
und flüstert uns leise in beide Ohren...

Ganz plötzlich. da wissen wir. so ist es gut,
den Plantaturm opfern wir hochgemut.
0 Mensch, das war eine knallharte Nuss,
das Geben tat weh vom Kopf bis zum Fuss!

Doch endlich. da haben wir es geschafft,
der Engel, der hat sich davongemacht.
Die Risse im Plantaturm sind schon geflickt,
er wäre sonst noch zusammengeknickt.

So konnte man wohl das Schlimmste verhindern
und seine Wunden mit Mörtel verbinden.
Der Plantaturm soll zum Museum werden,
der wird dann berühmt überall auf Erden.

Die Leute klettern an Stricken hinauf,
ein Lifteinbau wird hier wohl kaum erlaubt!
Hinauf wird gekraxelt, per Rutschbahn hinunter,
die Seile, die hängen an den Zinnen herunter.

Das wird für die Welt eine Sensation.
Der Plantaturm denkt: welche Attraktion!
Touristen. die werden viel Eintritt bezahlen
und unser Kloster vor dem Ruin bewahren.

Seit mehr als einem Jahr ist nun der Plantaturm als Museum der Öffentlichkeit zugänglich, und einige Tausend Menschen haben es besucht und sich an ihm erfreut und begeistert.
In den gut 30 Jahren archäologischer Grabungen und Renovationen hat sich auch unser Kloster weiterentwickelt. Das Wesentliche. der Rhythmus von Gebet und Arbeit ist immer noch gleich. auch besteht die Klausur weiterhin. Es gibt für uns immer wieder Momente, in denen wir uns nach mehr Stille und Ruhe sehnen. Und doch sehen wir diese Öffnung auch als Teil unserer Aufgabe in der Welt und für die Welt an. Dass die Schwestern alle Mühsal ertragen konnten und auch heute noch auf sich nehmen, hat seinen Grund schon in der benediktinischen Spiritualität. Im Gehorsam und aus Liebe zu Gott bemühen wir uns, unseren Mitmenschen zu dienen.