2001 Christine Appenzeller

Christine Appenzeller, geboren am 26. Februar 1957, schloss 1978 in Zürich die Ausbildung als Primarlehrerin ab. Anschliessend arbeitete sie als Volontärin in einem Kinderheim von «Terre des Hommes» in Lima, Peru. 1980 gründete sie in Cusco die Asociaciön PUKLLASUNCHIS als Plattform für eine Grosszahl von Bildungsprojekten, darunter die Gründung einer für alle sozialen Schichten offenen Modellschule, vom Kindergarten bis zur Sekundarschule, für rund 800 Kinder; die Einführung von Fortbildungskursen für Kindergärtnerinnen und Primarlehrerinnen der staatlichen Schulen; die Einführung des zwei-sprachigen Schulunterrichts (Quechua als erste und Spanisch als Zweitsprache); der Aufbau eines didaktischen Studienzentrums für Lehrkräfte und der Betrieb eines Schulradios zur Unterstützung der Schulen in der Gegend von Cusco.

In Anerkennung ihres grossen persönlichen Einsatzes für ein menschenwürdiges Leben der Andenbevölkerung von Cusco/Peru durch die Entwicklung von interkulturellen, zweisprachigen und ganzheitlichen Schulprojekten.

Laudatio

Hugo von der Crone

Christine Appenzeller flog 1978, mit 21 Jahren, nach Abschluss des Lehrerinnenseminars Zürich nach Lima, um einen einjährigen Arbeitseinsatz als Volontärin in einem Kinderheim des Hilfswerkes «Terre des Hommes», Genf, zu absolvieren. Bei dieser Arbeit lernte sie peruanische Freunde kennen, die sie nach Cusco, der alten Inkahaupt-stadt auf fast 3400 Meter Höhe im Hochland der Anden gelegen, einluden. Durch sie kam sie in Kontakt mit der Bevölkerung der Armen- und Elendsviertel rund um die Stadt. Hier nun sah sie eine Aufgabe, die ihrer Vorstellung einer echten Entwicklungshilfe mit Pioniercharakter entsprach. Nach einem viermonatigem Vikariat in der Schweiz (um sich ein Startkapital zu beschaffen) begann sie in einem dieser Viertel von Cusco ihre Aufbauarbeit.
Ab Herbst 1980 organisierte Christine Appen-zeller — auf grossen Wunsch und von allem Anfang an in enger Zusammenarbeit mit der Bevölkerung — einen ersten Kindergartenbetrieb im Quartier Barrio de Dios. Parallel dazu führte sie Erwachsenenbildungskurse durch (Inhalt: Familienplanung, Hygiene und Ernährung, Kräuterheilkunde, später Alphabetisierungskurse). 1981 gründete sie die Asociación Pukllasunchis, eine vom Staat anerkannte und überwachte gemeinnützige Institution. (<PukIlasunchis> ist ein Ausdruck aus der Quechua-Sprache der Indios und bedeutet: «Kommt, lasst uns spielen»).
Im Laufe der Jahre 1982/1983 wurde das erste neue Kindergartengebäude gebaut — weitgehend von der Bevölkerung selbst. Bald aus weiteren Quartieren folgten Anfragen um Unterstützung und Organisation von Kindergärten. 1984 wurde Christine Appenzeller von den Stadtbehörden mit der Aufgabe betraut, im Quartier San Pedro in einem der Stadt gehörenden alten Kolonialhaus für die Marktfrauen einen Kinderhort für 200 Kinder einzurichten. 1985 folgte die Einrichtung eines Kindergartens im Frauengefängnis BeIén. In der Zwischenzeit wurde auch dort, wie-der mit aktiver Beteiligung der Quartierbewohner und der Gefängnisinsassinnen, ausserhalb der Gefängnismauern, ein Gebäude für vier Klassenzimmer nebst Nebenräumlichkeiten erstellt. Dort wurden rund 120 Kinder — ein Drittel von inhaftierten Wittern, zwei Drittel aus dem umliegenden Quartier — unterrichtet.
Schon bald sah Christine Appenzeller, dass sich die Kinder der Armenviertel nicht gleich wie diejenigen aus dem Mittelstand entwickelten. Sie begann eine Untersuchung an 100 Neugeborenen, nach den Methoden und mit dem Testmaterial der «Münchener Funktionellen Diagnostik», die nach fünf Jahren abgeschlossen und ausgewertet war und veröffentlicht wurde. Aufgrund der Resultate aus der Studie drängte sich die Einrichtung eines Übungsschulkindergartens auf, um dort Verhaltens- und Entwicklungsstörungen durch entsprechende Förderung, Erziehung und Betreuung abzubauen. 1988 wurde dieser als Pilotschule in alten, selbst renovierten Gebäuden eingeweiht. Diese Entwicklung bedingte nun aber besser ausgebildete Lehrkräfte und erforderte die Beiziehung von Spezialisten. Die Eltern der Schüler und Schülerinnen dieses Pilot-Kindergartens drängten zudem ab 1989 darauf, dass ihre Kinder anschliessend an den Kindergarten eine gute Schulausbildung bekommen sollten, und so wurde dem Pukllasunchis-Betrieb eine weitere Schule angegliedert.
Im Kindergarten und in der Schule werden — entsprechend den Auswertungen der Studie — neue Lehrpläne erprobt, bestehende überprüft und laufend verbessert.
1990 arbeiteten zwei Kinderpsychologinnen mit Spezialausbildung in Logopädie, ein Anthropo-loge, eine Musikpädagogin und eine Quechua-Spezialistin in Pilot-Kindergarten und Pilotschule mit den Lehrerinnen von zehn weiteren staatlichen Kindergärten und Schulen in den Armen-quartieren eng zusammen. Das Ziel dieser Zusammenarbeit war aber nicht nur eine punktuelle Verbesserung der Schulen in den von ihnen betreuten Quartieren. Vor allem sollte der Regionalregierung, die 1990 neu gegründet wurde, ein ausgereifter, fundierter und konkreter Vorschlag für neue Lehrpläne und eine bessere Lehrerinnenausbildung vorgelegt werden können.
Die Bezeichnung <Pilotschule> rechtfertigt sich für die Pukllasunchis-Schule auch aus einem besonderen Grund: Weil sie — wiederum als erste Schule im ganzen Land — bewusst und konsequent zweisprachig geführt wird. Während alle anderen peruanischen Schulen ausschliesslich in spanischer Sprache unterrichten, räumt das Projekt von Christine Appenzeller der lokalen Sprache (Quechua) eine ebenbürtige Bedeutung ein. Dieser Aspekt besitzt einen hohen identitätsstiftenden Wert, da Quechua die gesprochene Sprache der ländlichen Bevölkerung ist, Spanisch dagegen das Idiom höhergestellter städtischer Schichten. Auch aus diesem Grund ist das Schulprojekt von Christine Appenzeller in ganz Peru bekannt geworden, so dass Bestrebungen zur Übernahme der pädagogischen Grundsätze in den staatlichen Schulen gute Chancen eingeräumt werden.
Von Anfang an bestand die Einsicht, dass nur eine konsequente Lehrerfortbildung den dauer-haften Erfolg des Schulprojekts gewährleisten konnte. Auch diesbezüglich ist Christine Appen-zeller neue Wege gegangen. Sie wirkte persönlich so überzeugend, dass ihr bereits zu Beginn der Achtzigerjahre der Auftrag zur Organisation der Fortbildung aller staatlichen Lehrkräfte der Region Cusco übertragen wurde.
Noch eine Bemerkung zum politischen Teil des Einsatzes von Christine Appenzeller und der Personen, die in ihrer Organisation mitwirken: Christine Appenzeller hat konsequent alle (auch die sanftesten) Formen der Kolonialisierung gemieden. Alle Schritte, die sie zur Verwirklichung ihres Projektes unternommen hat und unter-nimmt, wurden vielmehr in Absprache mit Eltern und Behörden erarbeitet und ausgeführt. Gerade das Bekenntnis zur Zweisprachigkeit, das den Eltern der Kinder zuerst eine gewisse Mühe bereitete, belegt, wie ernst es Christine Appenzeller mit der Aufwertung und Pflege lokaler, identitätsstiftender Traditionen ist.
 
Zum Finanziellen: Getragen wird die Tätigkeit der Schule durch schweizerische Hilfswerke und Stiftungen, vor allem aber durch Spenden eines grossen Kreises von Freunden und Verwandten, der sich 1992 in einer Trägerorganisation (Stiftung Pukllasunchis-Schulen für Cusco in der Schweiz) organisiert hat. Auch der peruanische Staat steht nicht abseits, sondern trägt seit 1997 die Besoldung der Lehrkräfte. Nicht vergessen seien auch die Eltern der Kinder, die je nach ihren bescheidenen Möglichkeiten durch Geldbeiträge oder sonstige Leistungen den Betrieb der Schule auf eindrückliche Art mittragen.
Nach zwanzig Jahren sind dank der Initiative und dem grossen persönlichen Einsatz von Christine Appenzeller folgende Ziele erreicht worden [Stand 2001, Hrsg.]:
—    Sechs Kindergärten in Armenvierteln von Cusco sind aufgebaut und werden heute mit staatlicher Unterstützung durch die Quartierbewohner selbständig betrieben.
—    Die Pilot- und Modellschule Pukllasunchis —sie umfasst heute alle Stufen der peruanischen Grundschule (Kindergarten, Primar- und Sekundarschule) — für 800 Schülerinnen von 4 bis 17 Jahren ist ein Modell für alternativen Unterricht in Cusco, in der Provinz und in ganz Peru geworden. Die Kinder stammen aus verschiedenen soziokulturellen Schichten; sie lernen somit von klein an, ohne Vorurteile und Diskriminierung zusammen zu leben. In der Stadt Cusco ist Spanisch die Hauptsprache. Von der zweiten Primarklasse an werden die Schülerinnen auch in Quechua, der Indiosprache, als Zweitsprache unterrichtet. Puklasunchis ist damit die einzige Schule im ganzen Land, in der diese Sprache gelehrt wird. Die Eltern der Kinder in der Modellschule nehmen aktiv an der Organisation und Leitung der Schule teil. Mit Ausstellungen, Musik- und Theateraufführungen und in Radio- und Fernsehsendungen ist Pukllasunchis auch öffentlich präsent. Eng sind auch die Kontakte mit den pädagogischen Seminaren und der Universität von Cusco sowie mit privaten Organisationen, anderen Projekten und der Koordinationsstelle für Versuchsschulen in Lima.
 
—    Lehrmittel für den Unterricht in Quechua sind erarbeitet und werden laufend ergänzt.

—    Die Erfahrungen des Teams unter Leitung von Christine Appenzeller werden durch Weiterbildungskurse an alle staatlichen Kindergärten und Schulen der Provinz Cusco weitergegeben.

—    Von 1995 an sind die Lehrplanvorschläge und didaktischen Alternativen in die staatliche Schul¬reform integriert.

—    Ein Studien- und Informationszentrum mit Bibliothek und Werkstatt für Schule und Erziehung für Lehrerinnen, Studierende und alle interessierten Kreise wird mit Erfolg betrieben.

—    Die in Pukllasunchis entwickelten Programme und Projekte haben sich zu einem in Fachkreisen, aber auch in der Bevölkerung anerkannten Vorbild für Alternativen in Schule und Erziehung entwickelt, wo Rechte der Kinder und Beachtung der Menschenrechte, eine ethische Lebensauffassung, individuelle Persönlichkeitsentfaltung, interkultureller Austausch und angewandte Ökologie eine wichtige Rolle spielen.

—    Als Fernziel wird ein Lehrerinnenseminar für interkulturellen und zweisprachigen Unterricht geplant.

—    Im Auftrag des Staates wird seit März 2000 mit 3000 Primarlehrerinnen der Stadt Cusco und 250 Spezialisten verschiedener Fächer der Sekundarstufe während zwei 20tägigen Intensivkursen gearbeitet.

—    Schliesslich begannen auch die Kurse mit den 40 Lehrerinnen der Landschulen rund um Cusco. Deren Enthusiasmus ist gross. Ausser den didaktischen Themen sind verschiedene Aktivitäten geplant, die ihnen erlauben, die Weltanschauung und Kultur ihrer Schülerinnen und der Andenbevölkerung besser zu verstehen und damit im Unterricht einzubauen.


Christine Appenzeller, Ihre Anstrengungen zur Förderung und Erhaltung der humanitären Kultur sowie zur Hebung des Lebensstandards sind beispielhaft. Sie haben sich unter grösstem Einsatz Ihrer Möglichkeiten als Lebensaufgabe um das Wohl der Menschheit schon im jugendlichen Alter besonders verdient gemacht. Durch Ihre Initiative mit den Schulen in Cusco heben Sie die Volksbildung und haben weittragende, auf Dauer angelegte Institutionen geschaffen. Sie sind eine würdige Preisträgerin des J. E. Brandenberger Preises. Ich gratuliere Ihnen zu dieser Ehrung von Herzen und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg bei der Realisierung Ihrer Pläne.


Zu innerem Reichtum, Selbstachtung und Gemeinschaftssinn

Christine Appenzeller

Sehr geehrte, liebe Mitglieder der Brandenberger-Stiftung, liebe Gäste

Es ist eine unbeschreibliche Freude für mich, dass ich heute in Ihrem Kreise, stellvertretend für unser ganzes Pukllasunchis-Team, diesen einmaligen Preis entgegen nehmen darf. Im Namen unseres Teams danke ich Ihnen von ganzem Herzen dafür.
Mit grosser Freude werde ich Ihnen nun ein wenig von meiner Arbeit in Peru und dem Entstehen und Wachsen von Pukllasunchis erzählen.
Nach Abschluss des Lehrerseminars reiste ich 1978 nach Lima für einen einjährigen Einsatz in ein Kinderheim von «Terres des Hommes». Ich war damals 21 Jahre alt, und der Einblick in das unvorstellbare Elend in den Armenquartieren, in denen ich arbeitete, war eine tiefgreifende Erfahrung für mich. Mitte 1979, vor meiner (eigentlich geplanten!) Heimreise in die Schweiz, luden mich peruanische Freunde zu einem Besuch nach Cusco ein, der alten Inkahauptstadt auf 3400 Metern im Andenhochland. Hier traf ich auf eine kleine, engagierte Gruppe peruanischer Frauen, die mich darum bat, ihnen beim Aufbau eines Kindergartens in einem Armenquartier von Cusco behilflich zu sein. Das war meine grosse Chance! Hier sah ich die Möglichkeit, aktiv etwas zur Verbesserung der schwierigen Situation (vor allem der Frauen und Kinder) in der ärmsten Bevölkerungsschicht beitragen zu können.
Peru ist wirtschaftlich eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, mit einer immensen Auslandschuld, gewaltigen Einkommensunterschieden, ungerechten sozialen Verhältnissen und grosser Diskriminierung innerhalb der peruanischen Gesellschaft. Rund ein Fünftel der Bevölkerung lebt in extremster Armut. Im Andenhochland sind es mehr als 50 Prozent.
Peru ist aber auch ein Land vieler Kulturen: Quechuas (über drei Millionen) und Aymaras (über eine halbe Million) leben im Andenhochland, und im Urwaldgebiet über 60 verschiedene ethnische Gruppen mit eigenen Sprachen. Diese Bevölkerung ist noch sehr stark in ihren alten Traditionen verwurzelt. Leider finden immer weniger von ihnen ein Auskommen auf dem Land und emigrieren in die Städte, in der Hoffnung, dort besser überleben zu können. So siedeln sich seit ca. 1950 auch rund um Cusco immer mehr Indios mit ihren Familien an.
In einem dieser Quartiere, im Barrio de Dios, begann ich, mit der Unterstützung von engagierten Peruanerinnen, meine Arbeit. In diesen Vierteln gab es keinerlei Infrastruktur, keine Elektrizität, keine Wasser- und Abwasserversorgung, keine Schulen oder gar Kindergärten. Zusammen mit der Bevölkerung richtete ich im Mai 1980 in einem kleinen, düsteren Lokal mit gestampftem Lehmboden einen Kindergarten ein und führte ihn, zusammen mit einer Sekundarschülerin. 1981 gründeten wir die Asociación Pukllasunchis. (PukIlasunchis> ist ein Ausdruck aus der Indiosprache Quechua und bedeutet: «Lasst uns spielen». Das ist auch das Motto, das unsere ganze Arbeit prägen sollte: das Lernen soll spielerisch und mit Lust und Begeisterung «erlernt» und ein ganzes Leben lang mit Freude ausgeübt werden. Zwei Jahre später schon konnten wir, dank der begeisterten Mitarbeit unserer Eltern, unseren ersten kleinen Kindergarten- und Primarschulhausneubau einweihen!
Dieses Beispiel machte Schule. Andere Quartiere baten um unsere Unterstützung. Voraussetzung für unsere Hilfe war immer, dass sich die Bevölkerung beteiligt und engagiert, dass sie sich selbst organisiert und interessiert und aktiv an den Zielen und Entscheidungen der Schule mitarbeitet. So entstanden im Lauf der Jahre sechs weitere Kindergärten in anderen Armenvierteln von Cusco, für über 600 Kinder. Parallel dazu führten wir Alphabetisierungskurse für Frauen und Aufklärungskurse für Jugendliche durch. Durch all diese Aktivitäten und gemeinsamen Arbeiten entwickelte sich ein intensiver Kontakt mit der Bevölkerung. Nach Bau und Einrichtung und einigen Jahren erfolgreichen Betriebes der diversen Kindergärten erreichten wir dann beim peruanischen Erziehungsministerium deren finanzielle Übernahme. Die Asociación Pukllasunchis kümmert sich aber weiterhin, in enger Zusammenarbeit mit den Lehrkräften, darum, dass diese laufend pädagogische Verbesserungen suchen. — Das staatliche Schulsystem verstärkt und spiegelt die vorhin kurz erwähnte soziale Struktur unseres Landes. Es wiederholt und verstärkt die Diskriminierung einzelner Kulturen, den Druck zur Assimilierung, die Distanz zwischen den sozialen Schichten und die konventionelle Rollenverteilung zwischen Knaben und Mädchen.
Im Prinzip haben alle Kinder die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Aber rund 40 Prozent der Kinder geben die Schule vorzeitig auf. Vor allem in den städtischen Armenvierteln, im Andenhochland und in den Urwaldgebieten zwingen wirtschaftliche Probleme die Kinder schon sehr früh zur Arbeit, um zum Familieneinkommen beizutragen. Andererseits ist das, was sie in den staatlichen Schulen lernen, für ihr praktisches Leben kaum brauchbar und ist deshalb kein Anreiz für längere Schulausbildung. Die Klassen umfassen 40-60 Schülerinnen, es fehlt an Schuleinrichtung und vor allem an gutem Unterrichtsmaterial, das dem Lebens- und Erfahrungsraum der Kinder entsprechen würde. Die Lehrkräfte sind mehrheitlich immer noch schlecht ausgebildet und miserabel bezahlt. Die Lehrmethoden sind sehr konventionell, der Unterrichtsstil ausgesprochen autoritär; Auswendiglernen steht im Zentrum. Alle Lehrinhalte sind weder den Kindern noch den regionalen, sozialen und kulturellen Besonderheiten angepasst.

Unsere praktischen Erfahrungen und kleine Forschungsprojekte, die wir durchführten, vertieften unsere Kenntnisse der Problematik des offiziellen Schulsystems. Wir wollten eine bessere Schule, ein alternatives Modell aufbauen! So entstand 1988 die Modellschule «Pukllasunchis» für Kinder und Jugendliche aus verschiedenen sozialen Schichten (Kindergarten, Primar- und Sekundarstufe). Das Ziel unseres Projektes war, innovative Lehrplanvorschläge zu entwickeln und zu erproben, die dann auch in den staatlichen Schulen verwendet werden konnten. Schon damals bestanden unsere Klassen ganz bewusst aus verschiedenen soziokulturellen Schichten, um die Schülerinnen und Schüler von klein auf zu lehren, ohne Vorurteile und Diskriminierung zusammen zu leben!

Auf demokratischer Basis wurden auf allen Stufen neue Formen schulischer Organisation erprobt, neue Lehrmethoden, Lehrmittel und didaktische Materialien von einheimischen Bildungsfachleuten ausgearbeitet und solange überarbeitet, bis sie den praktischen Erfordernissen genügten. Unsere Modellschule soll:

—    die intellektuellen und die praktischen, musischen und emotionalen Fähigkeiten der Kinder fördern,

—    nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch die Entwicklung von Grundfähigkeiten fördern, die es den Kindern ermöglichen, eigenständig zu lernen, zu denken und zu entscheiden,

—    positive Wertvorstellungen und Grundhaltungen wie Verantwortung, Ehrlichkeit, Solidarität und Gerechtigkeitsempfinden entwickeln,

—    einen Beitrag zur Erhaltung der eigenen Identität leisten, zur Wertschätzung der eigenen Kultur und gleichzeitig das Verständnis für andere Lebensweisen erweitern,

—    zum ökologischen Bewusstsein und zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen.

Die Eltern der Kinder der Modellschule sind an deren Organisation mit beteiligt und nehmen sehr aktiv am Geschehen und Alltag in der Schule teil. Mit Ausstellungen, Musik- und Theateraufführungen und in Radio- und Fernsehsendungen ist «Pukllasunchis» auch öffentlich präsent. Eng sind auch die Kontakte mit den pädagogischen Seminaren und der Universität von Cusco, sowie mit privaten Institutionen, anderen Projekten und der Koordinationsstelle für Versuchsschulen in Lima. Pukllasunchis will aber nicht nur eine einzige, «exklusive», gute Schule sein. Unser Ziel ist es, unsere pädagogischen Erfahrungen zum Wohle aller Kinder von Cusco und Umgebung weiter zu geben. In diesem Sinne bieten wir seit 1990 (zum Teil im Auftrag des Staates) Fortbildungskurse für Kindergärtnerinnen und Primar- und Sekundarlehrerinnen an. In Workshops, Kursen und im praktischen Unterricht mit Supervision werden Lehrplan-Ideen und aktive Lehrmethoden vermittelt, diskutiert, in der Praxis erprobt und den jeweiligen Umständen angepasst.
Seit 1996 machen wir auch, in enger Zusammenarbeit mit engagierten Lehrkräften von Landschulen in der Region Cusco, Vorschläge für interkulturellen und zweisprachigen Unterricht (Quechua als Erst- und Spanisch als Zweitsprache). In diesen Bauerngemeinden existieren viele Landschulen, die kaum Stühle und Schulbänke haben und in denen bis anhin ausschliesslich auf Spanisch unterrichtet wurde, obwohl praktisch alle Kinder nur Quechua sprechen! Man stelle sich da Verständigungs- und Lernmöglichkeiten vor!
Wir sind überzeugt davon, dass ein erfolgreicher Lernprozess mit der Muttersprache beginnen und dass diese, parallel zu anderen Sprachen, weitergeführt werden muss. Auf diese Weise kann dem Kinde auch die Lust und Freude am Lernen vermittelt werden. Dazu gehört ein Unterricht, der sein alltägliches Leben, seine Umgebung, seine Kultur und seine bisherigen Erfahrungen integriert. Durch den engen Einbezug der Eltern in unsere Programme erreichen wir auch ein immer grösseres Verständnis und Wissen ihrer Kultur, ihres Brauchtums, ihrer ganz spezifischen Traditionen, die wir dann wieder in die Lehrpläne einfliessen lassen können. Dadurch fördern wir ein höchst interessiertes, lustvolles Lernen und eine unheimliche Stärkung des Selbstwertgefühls, bei den Kindern und bei deren Eltern. Ihr uraltes Wissen bereichert uns jeden Tag und ist eine unversiegbare Quelle der Freude für uns. Unsere intensive Zusammenarbeit ermöglicht es uns gleichzeitig, den Eltern Wissen anderer Kulturen über Erziehung, Ernährung, Gesundheit und Lebensweisen zu vermitteln und ihnen zu zeigen, wie sie die Entwicklung ihrer Kinder fördern können.2
In Cusco existieren kaum Bibliotheken, und auch Buchhandlungen offerieren keine grosse Auswahl und schon gar keine spezialisierte Literatur für Schule, Erziehung, Bildung, Psychologie und Ähnliches. Ausserdem sind Bücher ausserordentlich teuer und für Lehrer und Lehrerinnen kaum erschwinglich. Daher eröffneten wir im Jahre 2000 im Stadtzentrum eine Informationsstelle für Lehrkräfte, Praktikanten und alle Leute, die sich für Erziehung interessieren. Hier führen wir eine Fachbibliothek, bieten Informatikkurse an und organisieren Diskussions- und Filmabende. In einer kleinen Werkstatt werden die Lehrer und Lehrerinnen durch eine Fachperson angeleitet, ihre eigenen didaktischen Lehrmittel selbst her-zustellen. (Zum Beispiel Puzzles, Dominos, Rechenspiele, Sprachspiele etc.). Sie müssen nur die Rohmaterialien selbst bezahlen.
Inzwischen platzte unsere Modellschule aus allen Nähten. Die Organisation und der Betrieb in den diversen Lokalitäten, über das ganze Stadtgebiet verteilt, waren sehr mühsam und zeitraubend. 1999 hatten wir das grosse Glück, dass wir, dank einer ganz ausserordentlichen Unterstützung durch eine Stiftung in der Schweiz, ein grosses, wunderschönes Stück Land in San Sebastián, einem Vorort von Cusco, kaufen konnten. Zwei Jahre später steht nun schon das erste von drei geplanten Schulgebäuden. Wir sind überglücklich. Nun gehen wir daran, unseren Traum einer Alternativschule für alle Klassen, vereint auf unserem eigenen Land, zu verwirklichen. Und die fantastische Preissumme, die ich heute von Ihnen entgegennehmen durfte, wird uns dazu ein grosses Stück weiter helfen. Wir planen einen Kindergarten—, einen Primar- und einen Sekundarschulbau für ca. 750 Kinder. Die Hälfte davon wird aus Armenquartieren kommen, die andere Hälfte aus dem Mittelstand. Ihre Eltern bezahlen, zusätzlich zum Schulgeld für ihre eigenen Kinder (das je nach Einkommen abgestuft ist), einen Solidaritätsbeitrag für diejenigen Kinder, denen es sonst nicht möglich wäre, unsere Schule zu besuchen. Durch die enge Einbindung, das aktive Mitwirken aller Eltern aus so verschiedenen ökonomischen und religiösen Schichten, fördern wir Toleranz, gegenseitiges Verständnis und einen vorurteilslosen Umgang miteinander. Wir tragen damit auch zum Abbau von Diskriminierung jeglicher Art in der peruanischen Gesellschaft bei. Diese gelebte Solidarität und das Verantwortungsgefühl und Engagement bei Eltern und allen Mitarbeitenden für ihre eigene Schule wird auch beispielgebend für die menschliche Entwicklung unserer Kinder sein.

Voller Freude und Enthusiasmus werden wir nun die vielen kommenden Aufgaben in Angriff nehmen. Zusätzlich zu den Schulräumen möchten wir diverse Werkräume anbieten. Unsere Kinder sollen, neben einer guten, soliden Schulausbildung, auch die Möglichkeit erhalten, sich Grundbegriffe in einer eigenen kleinen Schreinerei, in der Metallverarbeitung und bei der Herstellung von Schmuck anzueignen. Sie sollen Koch- und Handarbeitskurse besuchen können, eine Keramikwerkstatt erhalten, Recyclingpapier herstellen und vieles mehr. Jede Klasse soll im grossen Schulgarten ihr Areal bekommen, das sie ökologisch bewirtschaftet. Mit Heilkräutern und einheimischen Pflanzen wollen wir Naturheilmittel nach alter Tradition herstellen. Diese werden wir, ebenso wie die in den anderen Werkstätten hergestellten Produkte, in Cusco verkaufen. Der Erlös soll dann in die Stipendienkasse für Schülerinnen und Schüler einfliessen.
Wir wollen den reichen Schatz an traditioneller Musik, Tänzen und Brauchtum fördern und pflegen. Unsere Kinder sollen Theater spielen, zeichnen und gestalten können. All ihre intellektuellen, manuellen und musischen Fähigkeiten wollen wir entfalten und nach 13 Jahren Pukllasunchisschule selbständig denkende und handelnde junge Menschen entlassen, die zuversichtlich, positiv, eigenständig, verantwortungsvoll und solidarisch ihr Leben gestalten.3
Ich danke Ihnen, im Namen all meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vor allem aber im Namen der Kinder und ihrer Eltern ganz, ganz herzlich, dass Sie uns mit ihrer Auszeichnung die Möglichkeit gegeben haben, unsere Vision weiter zu verfolgen und zu verwirklichen. Ich freue mich auf die Herausforderungen, die die kommenden Jahre uns bringen werden.