1998 Hans R. Thierstein

Geboren am 27. Mai 1944 in Zürich. Studium der Geologie an der Universität Zürich. Diplom 1969 und Promotion 1972. 1973-1976, mit einem Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds, Forschungsaufenthalte am Lamont-Doherty Earth Observatory der Columbia Universität, Palisades, New York, und an der Woods Hole Oceanographic Institution, in Woods Hole, Massachusetts. 1976-1985 Assistenz- und später ordentliche Professur für Geologie an der Scripps Institution of Oceanography der University of California, San Diego. Seit 1985 Professor für Mikropaläontologie an der ETH und der Universität Zürich.

In Anerkennung seiner originellen mikro-paläontologischen Beiträge zur Naturgeschichte, seines Einsatzes für transdisziplinäre Umweltforschung und seines Engagementes für eine wissenschaftlich gestützte und ethisch verantwortete Klimapolitik.

Laudatio

Beat Sitter-Liver

Vom Mikropaläontologen an der Forschungsfront zum politischen Umweltmoralisten — man könnte versucht sein, meine Damen und Herren, mit diesen Worten den Bogen zu schlagen vom Beginn der wissenschaftlichen Laufbahn unseres Preisträgers zur heutigen Feierstunde. Und in der Tat, als erster und schneller Zugriff möchte dieses Kürzel genügen. Doch bei näherem Zusehen und nur wenigen Überlegungen erkennen wir rasch, dass wir mit ihm Prof. Dr. Hans R. Thierstein und seiner persönlichen Ge-schichte nicht gerecht würden:

Einmal wird sein sittlich-politisches Engagement nicht erst in den letzten Jahren manifest, sondern treibt schon den 21jährigen — ob zum ersten Mal, mögen andere, die ihn besser kennen, beurteilen — in die Öffentlichkeit. Im «kaktus», der Zeitschrift von den Jungen für die Jungen (1. Jg., Nr. 2, 15.6.1965, S. 4-7), übt er sich in der Erwägung, ob Wissenschaft Gefahr und wieweit sie Hoffnung berge. Aldous Huxleys utopische Skizze einer «Brave New World» gibt ihm Gelegenheit, die Verdienste, die Unausweichlichkeit, die Unabdinglichkeit, aber auch die Ambivalenz von Wissenschaft, Markt, Massenproduktion und Werbung zu erörtern. In dieser frühen, drei Jahre vor 1968 geschriebenen Etüde finden sich Sätze, die nichts an Aktualität eingebüsst haben. Im Zusammenhang mit Bevölkerungswachstum, Medizin und Hygiene lesen wir etwa: «Wir er-streben heute gute Zwecke mit schlechten Mitteln, indem wir einen schnellen Tod (durch Krankheit) durch einen langsamen (Verhungern) ersetzen. Um aus diesem ethischen Dilemma herauszukommen, werden der gute Wille und die Intelligenz aller Menschen von Nöten sein». Vom Zündstoff, der hier in wenigen Worten reichlich gelagert ist, wollen wir heute und jetzt die Finger lassen. Wohl aber nehmen wir zur Kenntnis, dass die ethische Reflexion des zivilatorischen Fortschritts dem erst angehenden Wissenschafter wie selbstverständlich über die Lippen geht. Er hat früh verstanden, dass die Reduktion vielfältiger Erscheinungen auf ein einheitliches Prinzip — das Erfolgsrezept der modernen Naturwissenschaften (H.-J. Staudinger) —unerwünschte praktische Konsequenzen zeitigen kann: «Die theoretische Zurückführung unbegrifflicher Vielheit auf begriffliche Einheit bedeutet... in der Praxis die Zurückführung intermenschIicher Verschiedenheit auf menschenunwürdige Gleichheit und Gleichschaltung.» In der Politik, so Hans Thiersteins Überzeugung, wandelt sich eine wissenschaftliche Theorie mit umfassendem Anspruch, nicht anders als ein gleich ausgezogenes philosophisches System, zur totalitären Diktatur, «in der Wirtschaft zum reibungslos laufenden Apparat», der Menschen zu Maschinen herabwürdigt. Eine derart normativ geprägte Analyse muss in das politische Be-kenntnis zur individuellen Freiheit in wechsel-seitiger Achtung, zur Sicherung menschenwürdigen Daseins für alle Menschen münden. Wissenschaft, daran lässt der jugendliche Autor keinen Zweifel, kann und soll, in ethischer Verantwortung geführt, Wesentliches beitragen, wenn wir an einer Gegenwelt zu Huxleys «Schöner Neuen Welt» bauen (op. cit., s.5.f.7).

Falsch wäre das eingangs präsentierte Kürzel aber auch deswegen, weil Hans Thierstein keineswegs von der Forschungsfront zurückgetreten ist, selbst wenn heute seine Verwendung für viele Kolleginnen und Kollegen aus der weiten Forschungsgemeinschaft, aber auch für Studierende seine Aufmerksamkeit und seine Kräfte erheblich beanspruchen. Mit der Feststellung, unser Preisträger geniesse als Spezialist internationales Ansehen, wollen wir uns allerdings nicht begnügen; wir würden einem überkommenen und, wie ich meine, heute zu engen Verständnis des Begriffs der Forschungsfront anhängen. Jenem Verständnis nämlich, in dem auch die Nobelpreise wurzeln und das uns wünschen lässt, ein zweiter und dritter Alfred Nobel möchten erstehen — der eine, der die Geistes- und Sozialwissenschaften zu würdigen weiss; der andere, wichtiger noch, welcher hohe Auszeichnungen für transdisziplinäres Denken und entsprechende Forschungspraxis stiftete. An dieser von Wissenschafterinnen, Forschungsverwaltern und politisch Aktiven zwar immer wieder beschworenen, in der Forschergemeinschaft mit ihren Institutionen indessen zu selten noch wirklich geschätzten und honorierten Forschungsfront ergreift Hans Thierstein wichtige Initiativen. Hier trägt er Verantwortung für Projekte und Programme, wirkt er anregend und fördernd. Hier wirkt er im wahren Sinne des Wortes zukunftsgerichtet, fordernd, zuweilen eigensinnig, stets jedoch offen und bereit, liebgewonnene Meinungen für bessere zu verabschieden —gerade auch dann, wenn die treffenderen Einsichten von anderen stammen. Er weiss, dass die grossen Probleme in Gesellschaft und Geschichte, die unsere besten Kräfte herausfordern, sich nicht nach Fakultäten geordnet und in Spezialitäten aufgesplittert präsentieren. Daran wurde und wird immer wieder erinnert, wer wach in die Welt schaut und in die Gegenwart hinein-hört.

Gewiss steht zuvorderst an der für unser und unserer Mitwelt Dasein bedeutsamen Forschungsfront, wer dies tut und gewonnene Ein-sichten in wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Praxis aufnimmt. Dieses Verdienst, lieber Hans Thierstein, kommt Dir in hervorragendem Masse zu; Du pflegst jenes Sehen, Hören und Umsetzen nicht nur, aber gerade auch als Präsident jener Expertengruppe, welche das nationale Schwerpunktprogramm «Umweltforschung», angesiedelt beim Schweizerischen Nationalfonds, leitet.

Hans R. Thierstein, 54 Lenze zählend, lehrt heute als Ordinarius für Mikropaläontologie sowohl an der Eidgenössischen Technischen Hochschule als auch an der Universität Zürich. Seine Forschung gilt der Geschichte der Weltmeere sowie den Wechselwirkungen zwischen marinen Mikroorganismen und natürlichen Umweltveränderungen in der Geschichte der Erde. Die Hauptfragen, die ihn bewegen, formulierte er einmal wie folgt: «1. Was sind die grundlegen-den Züge der Entwicklungsgeschichte von Organismen? 2. In welchem Ausmass haben sich die Umweltbedingungen in der geologischen Vergangenheit verändert? 3. Wieweit und unter welchen Voraussetzungen haben Umweltveränderungen die Entwicklung von Organismen beeinflusst, und wieweit hat die Entwicklung von neuen Organismen die Umwelt verändert?» (Forschungsinteressen, 2. April 1984, S. 1). Das theoretisch wie experimentell gefestigte Wissen um globale Prozesse und deren Gesetzmässigkeiten verbindet sich bei Hans Thierstein mit der Einsicht, dass und wie willkürliches menschliches Verhalten eben diese Prozesse beeinflusst. Dies führt ihn dazu, sich für Umweltforschung und Umweltpolitik an seinen Hochschulen, in schweizerischen Akademien, im Schweizerischen Nationalfonds und in weiteren Institutionen und Gremien zu verwenden. Werfen wir einen — kurzen und natürlich unvollständigen —Blick auf seinen wissenschaftlichen Werdegang. Nach der Matura, die er an der Kantonalen Handelsschule in Zürich erworben hatte, sammelte er erste Berufserfahrungen als Werbeassistent.

Die Tuchfühlung mit den «geheimen Verführern» und ihrem Rollenspiel — Vance Packards Bestseller zählt Hans Thierstein zu jenen Büchern, die früh sein Denken prägten (Vance Packard: Die geheimen Verführer. Econ, Düsseldorf 1967) — diese Tuchfühlung gehörte zu den existentiellen Erlebnissen in jener Zeit, die ihn zum Studium bewogen. Nachdem die Nationalökonomie verworfen, die nötigen Nachprüfungen in Biologie und Chemie bestanden waren, schrieb er sich — übrigens gegen den Rat einer zuständigen Koryphäe, also auch hier durchaus selbst- und zielbewusst, man darf wohl auch sagen eigensinnig — als Student der Geologie an der Universität Zürich ein. Der Wunsch, sich mit der Geschichte der Erde vertraut zu machen, war zwar noch jung, nicht abgelöst aber von lange gehegten und weiter ausschweifenden Fragen, die sich letztlich auf den Ursprung und den Sinn der Schöpfung bezogen. Paläontologie fesselte ihn am meisten. Bei Hans Bolli traf er zudem auf Offenheit und Freiheiten, die unter andern Chefs rarer waren. Während Bolli sich auf die Evolutionsgeschichte der Foraminiferen konzentrierte — jener marinen Einzeller mit zierlichen, meist kalkigen Gehäusen, die am Meeresgrund im Laufe der Erdgeschichte Kalkfelsen bilden (in riesigen Mengen als sogenannter Globigerinenschlamm, vgl. Der Grosse Knaur, Bd. 6, 1982, S. 2499), führte sein Assistent Peter Roth, unter Nutzung moderner technischer Mittel, Übungen zu kalkigem Nannoplankton durch. Gegenstand waren also jene mikroskopischen und submikroskopischen, im Wasser schwebenden Pflanzen und Tiere, die auch noch durch ein Gewebe mit einer Maschenbreite von 0,05 mm schlüpfen. Peter Roth sollte für Hans Thierstein wiederholt wichtig werden. Damals aber impfte er mit seiner Begeisterung für Forschungsarbeit im Ausland und mit seinen einschlägigen Erfahrungen dem Studiosus Thierstein den Wunsch und den Willen ein, selber in fremden Landen und Programmen seine Forschersporen abzuverdienen.

Die wissenschaftliche Biographie unseres Laureaten hört sich wie ein Stück Wissenschafts-geschichte an. Ein Paradigmenwechsel gehört dazu — 1968 setzte sich die neue Lehre von der Plattentektonik allgemein durch — wie auch technische Entwicklungen, so die Verfügbarkeit des Rasterelektronenmikroskops, welches, zu-gleich mit dem Licht-Mikroskop eingesetzt, etwa die Strukturen von Coccolithen — das sind von bestimmten planktischen Kalkalgen ausgeschiedene Kalkkörperchen in Meeresablagerungen, besonders in der Tiefsee — genau abzulesen und zu bestimmen. Dies trug zur wesentlichen Verbesserung der Taxonomie der Coccolithophoriden bei. Auch die selbständige Entwicklung von Instrumenten und Verfahren erschloss Hans Thierstein und seinen Mitarbeitern Wege zu originellen und die Forschung Dritter befruchtender Erkenntnissen.

So faszinierend es wäre, Thiersteins Forscher-biographie zu resümieren — Zeit und Ort verlangen, dass wir uns dieses Vergnügen versagen. Festhalten wollen wir aber, dass Hans Thiersteins Weg in der Wissenschaft von glücklichen Fügungen, Gelegenheiten zur rechten Stunde, von freundlicher Förderung durch Dritte, von Unwägbarkeiten ebenso wie von klugem Abwägen und geschicktem Taktieren, von Zielstrebigkeit und Willenskraft, vom Willen zu Erfolg und Geltung geprägt ist. Dieser Weg führt ihn über die Promotion, nun an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (die Dissertation befasste sich mit stratigraphischen Fragen der Unteren Kreide) zur Forschungsassistenz an deren Geologischem Institut; als Stipendiat des Schweizerischen Nationalfonds an das Lamont-Doherty Geological Observatory der Columbia University in New York sowie an die Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts. An der renommierten Scripps Institution of Oceanography und am Revelle College der University of California in San Diego erringt er nacheinander die Stufen des «Assistant», «Associate» und «Full Professor» für Geologie. Nach zwölf Jahren Bewährung und Auszeichnung in den Vereinigten Staaten von Amerika holen ihn 1985 ETH und Universität Zürich gemeinsam in die Schweiz zurück: als ordentlichen Professor für Mikropaläontologie.

Über all die Zeit ist Hans Thierstein zum international geachteten Forscher und gesuchten Gutachter geworden. Mehr als zehn Dissertationen hat er betreut. Die rund 70 Publikationen, unter denen sich auch Arbeiten für eine breitere Leserschaft finden, passierten zum grössten Teil die Kritik internationaler Peer Review. Seine Forschungsprojekte wurden und werden finanziert in den USA von der National Science Foundation, vom Office of Naval Research, vom Consortium of Oil Companies, in Europa im Rahmen von Projekten der Europäischen Kommission (durch das Bundesamt für Bildung und Wissenschaft); in der Schweiz durch den Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung wie durch die ETH. Interna-tionale Fachzeitschriften, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Deutsche Wissenschaftsrat sowie die Helmholtz-Gesellschaft sichern sich seine Dienste für wichtige Aufgaben. Dass er in der Schweiz nach Bruno Messerli die Expertengruppe für das Schwerpunktprogramm «Umwelt» führt, wurde bereits erwähnt. Er war eine wichtige Stimme in der Kommission «Strategie, Umweltforschung und nachhaltige Entwicklung in der Schweiz», die der Schweizerische Wissenschaftsrat im Auftrag des Bundesrates eingerichtet hatte. Seinen Ruf als Umweltexperte hatte er sich aber insbesondere im Rahmen der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften (SANW) — in mehrfacher Hinsicht eine Pionierin der Klima- und Umweltforschung in unserem Lande — erworben. So in der Kommission für Ozeanographie und Limnologie, als Präsident des Schweizerischen Komitees für das International Geosphere and Biosphere Programme, als Mitglied im Kuratorium von ProClim, dem «Forum für Klima und Global Change» oder in der Kommission für Klimaforschung und -politik, heute ein Beratungsorgan des Eidgenössischen Departements des Innern. Seine wissenschaftliche Arbeit und deren — auch auf Gesellschaft und Politik ausstrahlende — Bedeutung hat Hans Thierstein kürzlich ad usum Delphini und gleichsam als Steckbrief zusammenfasst (28.7.1998): Als Mikropaläontologe befasst er sich mit Mikrofossilien in der Grössenordnung von einem Tausendstel- bis zu einem Millimeter. Seit den Ursprüngen des Lebens vor etwa 3,5 Milliarden Jahren sind diese zu Fossilien gewordenen Lebewesen auf der Erde vorhanden, überall auf der Oberfläche verbreitet, und zwar relativ häufig: In einem Gramm Sediment-gestein finden sich zwischen hundert und einer Million Exemplare. Als Pflanzen waren diese Kleinstlebewesen wichtige Primärproduzenten, als Tierchen Konsumenten. Sie sind wesentlich am Austausch von Gasen (wie Sauerstoff und Kohlendioxyd) zwischen Ozean und Atmosphäre beteiligt. Tot und abgesunken, bilden sie Ge-steine in marinen Ablagerungen. Im globalen Stoffkreislauf lebenswichtiger Elemente — zum Beispiel von Kohlenstoff, Kalzium, Phosphor, Silizium — sind sie als geologische Senken wichtig. Die Mikropaläontologie, welche diese Fossilien studiert, hilft die Veränderlichkeit von Klima und Meeresströmungen in der Erdgeschichte rekonstruieren. Sie leistet Entscheidendes für die Erforschung von Veränderungen in den globalen Stoffkreisläufen wichtiger Elemente und atmosphärischer Gase, ist also massgeblich am Verstehen von Klimaschwankungen und Klimaveränderungen beteiligt. Die Analyse von Wechselwirkungen zwischen belebter (Biosphäre) und unbelebter (Geosphäre) Umwelt treibt sie voran. Endlich fördert sie das Verständnis von Evolutionsprozessen und dient — was für die Erdölindustrie wichtig ist — der Altersdatierung von Sedimenten. (Vgl. Paläozeanographie: Neue Aspekte erdgeschichtlicher Forschung, in Vierteljahresschrift der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich 1987,132/2, S. 88-103.)

Die Bedeutung der konkreten fachwissenschaftlichen Arbeit eines Mikropaläontologen, der sich mit Leichtigkeit in den verschiedenen Dimensionen seines Forschungsbereiches bewegt, zu würdigen, liegt jenseits der Kompetenz eines Laudators, der sich in der Praktischen Philosophie zu Hause fühlt. Lassen Sie mich darum das Wort einem lieben Kollegen geben, der, wenn er sich auch als «Flachwasser-Organismus» apostrophiert, das Wirken unseres Laureaten sehr wohl zu würdigen weiss — und aus seiner Hochschätzung kein Hehl macht. Er schreibt: «Thiersteins Doktorat (1972) bei Hans Bolli an der ETH Zürich fiel in eine Zeit, in der Bill Hay gerade nachgewiesen hatte, wie wichtig Nannoplanktonfossilien für die Ausarbeitung einer modernen Erdgeschichte sind, neben den planktonischen Foraminiferen, für die Hans Bolli Spezialist war. Nannofossilien bestehen hauptsächlich aus winzigen Skeletteilen (an der Grenze des Auflösungsvermögens des Licht-mikroskops), die in der Zellhülle von planktischen Grünalgen (Coccolithophoriden) gebildet und zu Milliarden am Meeresboden als feiner Kalkschlamm abgelagert werden. Bill Hay war oft derjenige, der eine Initialzündung in der Mikropaläontologie fabrizierte und dann die Ausarbeitung anderen überliess, die mehr Sitz-leder hatten. Die Gruppe um Hans Bolli an der ETH war das geeignete Substrat, um in solider Schweizer Manier einer neuen Methode zum Durchbruch zu verhelfen. Daraus ist heute der Mainstream der mikropaläontologischen Planktonforschung geworden. Thierstein war wesentlich daran beteiligt, diesem Mainstream im Be-reich des Nannoplankton das Bett zu bereiten. Mit der Übersiedlung nach Amerika, zuerst nach Lamont und dann La Jolla, das weltweite Mekka der Ozeanographie, kam Thierstein, ein Schweizer «marin d'eau douce», nicht nur in Kontakt, sondern wurde regelrecht eingetaucht in die ozeanographische Forschung im und rund um das grösste und sicher auch fruchtbarste erdwissenschaftliche Forschungsprojekt aller Zeiten, die JOIDES-Bohrungen in den tief gele-genen Ozeanböden. Thiersteins Mitgliedschaft im JOIDES Advisory Panel für Paläoozeanographie unterstreicht seine Rolle bei der Geschichtsschreibung des Werdens und Vergehens der Ozeane im Laufe der geologischen Zeit, seit es Nannoplankton gibt.

Thierstein ist ein kritischer Geist, der seine eigenen Wege innerhalb des «main-stream» der Forschung geht, ohne grosses Spektakel und mit Gründlichkeit und Konsequenz. So hat er sich in verdienstvoller Weise mit den «Katastrophen» in der heutigen Erdgeschichtsschreibung auf Grund kritisch hinterfragter Fakten grundsätzlich auseinandergesetzt, ohne dem Zeitgeist bedingungslos zu verfallen, wie so viele seiner Kollegen. Mit grosser Sorgfalt werden die Daten überprüft, bevor sie in die Rechnergestützte Auswertungsmaschinerie zur quantitativen Weiterbearbeitung eingeschleust werden. Es ist ein besonderes Verdienst, dass Thierstein grosse Vorsicht bei der Verwendung von taxonomischen Einheiten walten lässt, und diese auch kritisch hinterfragt. Taxonomische Einheiten sind die Messeinheiten für die Veränderung des Lebens in der geologischen Zeit; sie beruhen auf der Typisierung der Morphologie der Hartteile, wie sie im Fossil erhalten sind, nach den Regeln der Linndschen Systematik. Die Problematik dieses Vorgehens bleibt Thierstein immer bewusst und findet bei ihm ihren Niederschlag in morpho-metrischen Analysen, welche die biologischen Messeinheiten, eben die Taxa, stützen und objektivieren. So bleibt Thierstein in seiner Welt der abstrakten ozeanischen Modelle immer auch der biologischen komplexen Realität verhaftet und schlägt gleichzeitig Brücken zur anderen Welt der Abstraktionen, die im Bereich der Evolutionstheorie liegen.

Die Ozeane und ihre erdgeschichtliche Veränderung sind zweifellos der zentral steuernde Prozess der Klimaveränderung auf der Erde. Ihr Studium ist deshalb der richtige Ausgangspunkt für die Erforschung des sogenannten «global change», d.h. der Klimaveränderungen und -verschiebungen auf der Erde. Mit zunehmender wissenschaftlicher Reife kommt Thierstein so fast selbstverständlich zu den Fragestellungen, die auf Einsicht und Verständnis des heutigen labilen Zustandes von Hydro- und Atmosphäre zielen, jenseits von pauschalen und billigen, «grünen» Emotionen. Als Präsident der Expertengruppe des Schwerpunktprogramms Umwelt hat Thierstein heute Einsicht in fast alle Sparten der Umweltwissenschaften, was sich auch in der differenzierten Formulierung seiner eigenen om Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekte niederschlägt.»

Die Brandenberger-Stiftung, meine Damen und Herren, ist keine Einrichtung zur Auszeichnung professioneller, insbesondere wissenschaftlicher Exzellenz. Die herausragende Erfüllung der Berufspflichten und damit Exzellenz ist vorausgesetzt; sie ist notwendige, nicht jedoch hinreichende Bedingung, der eine Preisträgerin bzw. ein Preisträger genügen muss. Das Erfordernis, sich ohne Schonung der eigenen Kräfte für eine gute und wichtige Sache einzusetzen, sich selber als Person in die Schanze zu schlagen, verlangt etliches darüber hinaus: so das Opfer der freien Zeit, den Verzicht auf Musse und Erholung, die Belastung und Riskierung persönlicher Beziehungen; aber auch die Bereitschaft, Widerstand zu leisten und Widerstand zu ertragen, sich Anfeindungen auszusetzen und Misserfolge konstruktiv zu verarbeiten, ohne das gesetzte und als richtig gewusste Ziel aufzugeben. Nur Beispiele habe ich eben aufgezählt. Nicht, dass sich diese im wissenschaftlichen Wettstreit nicht auch fänden. Ein Anderes ist es indessen, sie zugunsten eines der blossen Wissenschaft übergeordneten Zweckes, eines gesellschaftlichen oder gar menschheitlichen Zieles in Kauf zu nehmen und gar noch mit Ressourcen zu bezahlen, die im Ringen um wissenschaftliche Anerkennung und Selbstbehauptung dann fehlen mögen.
Hans Thierstein hat diesen zusätzlichen Einsatz geleistet, und er erbringt ihn weiter. Dies setzte eine entscheidende Öffnung, eine Reifung auch voraus. Im Rückblick auf seinen Werdegang stellte er einmal fest, noch lange nach seiner Rückkehr in die Schweiz seien seine Kontakte fachorientiert geblieben. Dies solange, bis die Erinnerung an seine Jugendzeit, da er vom Funktionieren und Versagen gesellschaftlicher Einrichtungen und Prozesse fasziniert und zugleich getrieben war, «die Welt zu verbessern», ihn einholte. Dass die Sorge um die eigene Karriere diese existentiellen Anliegen lange Zeit zugedeckt hatte, liess so etwas wie ein «schlechtes Gewissen» — das war im Gespräch sein Ausdruck —aufkommen. Hans Thierstein verdrängte es nicht, sondern liess es, in gewohnt kreativer Art und energischer Manier, zur Triebkraft für zusätzliches, neues Wirken werden. An drei Beispielen wollen wir uns das kurz vergegenwärtigen — und damit noch besser verstehen, warum die Stiftung ihn zum Preisträger 1998 erkor.

Die Fachorientierung aufzubrechen, setzte die Rückgewinnung eines breiten Gesichtsfeldes, gerade auch in wissenschaftlichen Belangen, voraus. Dass Hans Thierstein gewohnt war, Erd- und biologische Wissenschaften zu kombinieren, mochte diesen Prozess erleichtern. Im komplexen Reich der integralen Umweltforschung, welche der langfristigen Erhaltung lebensfördernder natürlicher Bedingungen dienen sollte, war indessen mehr nötig. Im Kreise der Expertengruppe für das Schwerpunktprogramm Umwelt liess sich beobachten, wie allmählich die Verknüpfung von natürlichen und anthropogenen Prozessen für Hans Thierstein selbstverständlich wurde. Der forschungspolitischen Konsequenz, die auf das zu beackernde Problemfeld noch wenig vorbereiteten sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen schwergewichtig in die Umweltforschung einzubeziehen, entzog er sich nicht. Dass ihm dies im Gerangel der Forschungsgemeinschaft um Projektkredite nicht nur Anerkennung verschaffte, galt und gilt es im Wissen um die Richtigkeit der gewählten Förderungsstrategie zu verkraften.

Zum zweiten Beispiel: Im Juni des vergangenen Jahres legte die Konferenz der schweizerischen wissenschaftlichen Akademien ein Dokument auf, das heute oft zitiert und als forschungspolitischer Wegweiser genutzt wird. «Visionen der Forschenden», so liest sich sein Haupttitel. Der Untertitel präzisiert: «Forschung zu Nachhaltigkeit und globalem Wandel — Wissenschaftspolitische Visionen der Schweizer Forschenden». In knapper, einem breiten Publikum zugedachter Form werden hier Thesen samt Vorschlägen für konkrete Massnahmen ausgebreitet. Schweizer Forschende erläutern, wie sie im Hinblick auf nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaften, insbesondere auf den absehbaren Wandel in den globalen Lebensbedingungen, ihre Wissenschaft betreiben wollen, mit dem Ziel, der gesellschaftlichen Mitverantwortung in den angesprochenen Belangen zu genügen.

Wie kam dieses Dokument zustande? Auf Stufe Bundesrat war man zur Einsicht gelangt, ein Konzept für die Umweltforschung in der Schweiz sei dringlich. Nachdem der ehemalige Direktor des Bundesamtes für Umwelt, Wald und Landschaft eine erste Studie vorgelegt hatte, wurde der Schweizerische Wissenschaftsrat mit der Aufgabe betraut, eine Arbeitsgruppe zu bilden und ein umfassendes Konzept für die kommenden Jahre zu entwickeln. Sie mögen von den Resultaten der oben bereits angesprochenen «Kommission Petitpierre» gelesen haben; vor nicht allzu langer Zeit wurden sie in der Presse besprochen. Hans Thierstein war besorgt, die zu leistenden Arbeiten würden verpolitisiert, die weit gediehenen Einsichten der Forschenden würden zu wenig beachtet, und kurz und gut: er lancierte die Idee eines Projektes, in dem anerkannte Wissenschafterinnen und Wissenschafter auf den Tisch legen, was am ersten nötig wäre, weil es von der Sache her am dringlichsten gefordert ist. Nicht bei einer Sammlung von Ideen sollte es aber bleiben, sondern in wissenschaftlicher Auseinandersetzung musste gefestigt werden, was schliesslich als Konsens aller Bestand hatte.

Was Hans Thierstein alles unternahm, um seiner Idee zuerst einmal zum Durchbruch zu verhelfen, dann auch sie zu realisieren, hatte mit seinen üblichen beruflichen Verpflichtungen nichts mehr zu tun. Ein beeindruckendes Arbeitspensum lud er sich auf, Kritik und, neben viel Zustimmung, auch persönliche Anfeindung heimste er ein. Er trieb aber sein Anliegen energisch vorwärts, gewann die Unterstützung namhafter Gelehrter beiderlei Geschlechts. Für das Vorgehen hielt er sich an eine international ausgewiesene Methode, die er auf die Bedürfnisse der geplanten Arbeit und auf die verfügbaren Mittel zuschnitt. Geld galt es zu finden, Mitarbeiter, institutionelle Unterstützung, Zeit, vor allem viel Zeit, und natürlich die Energie, deren Aufwand den sonst schon vielen Verpflichtungen nicht abträglich werden durfte. — Hans Thierstein gewann das Kuratorium von ProClim für sein Unternehmen, dann die Konferenz der schweizerischen wissenschaftlichen Akademien und auch den Nationalfonds. In relativ kurzer Zeit wurde etwas geleistet, was später, wie gesagt, fast selbstverständlich Eingang in die offiziellen Bemühungen um ein schweizerisches Umweltforschungskonzept finden sollte.

Der Drang nach Objektivität, nach Wahrhaftigkeit, nach Effizienz, angestachelt durch Betroffenheit und Verantwortungsgefühl angesichts der weltweiten Veränderungen in den natürlichen Bedingungen des Lebens auf dieser Erde, gaben Hans Thierstein die Kraft, sein Unternehmen, allen Widerständen und Schwierigkeiten zum Trotz, zum guten Ende zu führen, natürlich nicht ohne die Mitwirkung von vielen, die aber er zu überzeugen und begeistern hatte. Aus dem Dokument, so wie es heute gedruckt vorliegt, wird dies nicht ersichtlich. Der Name von Hans Thierstein figuriert hier als einer unter vielen anderen.

Mit dem dritten Beispiel möchte ich auf Hans Thiersteins zumindest indirektes politisches Wirken deuten. 1996 mit der Durchführung der Jahresversammlung der Schweizerischen Aka-demie der Naturwissenschaften in Zürich betraut, entwarf er zu dieser Gelegenheit eine Erklärung zur Klimapolitik der Schweiz und legte diese zur Unterzeichnung durch Kolleginnen und Kollegen auf. In sorgfältiger Weise wird hier auf den erkennbaren menschlichen Einfluss auf das globale Klima hingewiesen, werden die wahrscheinlichen Folgen der weltweit steigenden Emission von Treibhausgasen namhaft gemacht und wird die ernsthafte Gefährdung lebenswichtiger Ökosysteme in Erinnerung gerufen. An der Notwendigkeit, einen langfristig angelegten Plan zu Reduktion der anthropogenen Einflüsse wirksam umzusetzen, wird kein Zweifel gelassen. Vor allem aber, und das ist als Eingeständnis von wissenschaftlicher Seite bemerkenswert, wird die Tendenz verworfen, fehlende wissenschaftliche Gewissheit zum Vorwand zu nehmen, um vorbeugende Massnahmen aufzuschieben. Rasches Handeln, so das Fazit der Erklärung, ist angebracht; die technischen Voraussetzungen dazu sind gegeben, die zusätzlichen Kosten tragbar. In der Realisierung, so die Überzeugung unseres Laureaten, kann und soll unser Land eine Führungsrolle übernehmen.

Die Zurückhaltung, mit welcher der Text, trotz aller Bestimmtheit, formuliert ist, kann über die ihm innewohnende Sprengkraft hinwegtäuschen. Man wünscht ihm weite Verbreitung, in Wirtschaft und Politik wache und handlungs-freudige Leserinnen und Leser. Für uns hier zählt heute, dass sein Verfasser mit seiner Initiative einmal mehr über seine professionellen Verpflichtungen hinaus handelte und mit seiner ganzen Person für Überzeugungen eintritt, die keineswegs bequem und daher aus politischer und ökonomischer Warte besonders kritikanfällig sind.

Wenn Hans Thierstein vehement für eine langfristig lebensfördernde Klimapolitik eintritt, steht auch er vor der Aufgabe, dieses Ziel zu rechtfertigen, und zwar ohne bei der Selbstverständlichkeit des Selbsterhaltungstriebes zu verharren. Was Hans Jonas in den siebziger Jahren als den neuen kategorischen Imperativ verteidigte: nämlich die Forderung, dass eine Menschheit überhaupt sei, gilt Hans Thierstein offensichtlich als Leitmotiv für sein wissenschaftlich gestütztes politisches Wirken. Ich meine zu erahnen, was ihn bewegt. Das Motiv nährt sich aus einer religiösen Wurzel, ist aber nichtsdestotrotz auch für jene nachvollziehbar, die sich religiöser Bindungen ledig wähnen: In ihm verbirgt sich eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins, als einer Teilfrage nach dem Sinn des als Schöpfung gedeuteten Universums und seiner Geschichte. Sinn gewinnen wir Menschen in der bewussten, reflektierten und in der Folge verantworteten Bemühung, das Dasein nicht nur für bestimmte Individuen in der Gegenwart, sondern für alle Mitmenschen in Zeit und Geschichte möglichst gut zu gestalten. Das impliziert, die natürlichen Bedingungen künftigen Daseins nach Kräften zu gewährleisten. Nicht die Revolte gegen die vermeintliche Absurdität der Welt, wie sie Albert Camus kenn-zeichnet, nährt jene Bemühung, vielmehr ein Vertrauen, dem die Möglichkeit der Absurdität zwar nicht verborgen bleibt, dass diese indessen existentiell durch eine Zuversicht überwindet, welche ihren Grund im Transzendenten findet. Ich mag mich mit dieser etwas gewagten Interpretation irren; nicht irren kann ich mich in der Feststellung, dass sich mit Hans Thiersteins Engagement für eine weltweite lebensfördernde Klimapolitik eine sittliche Überzeugung verbindet. Im so ethisch verantworteten Einsatz gelangt Hans Thierstein einmal mehr über das hinaus, was man von ihm aufgrund seiner wissenschaftlichen Stellung verlangen darf und muss.

In der Urkunde, mit der Irma Marthe Branden-berger ihre Stiftung errichtete, lesen wir, als Preisträgerinnen und Laureaten seien Personen auszuzeichnen, die mit hohem persönlichen Einsatz ein Leben lang dem Wohle ihrer Mit-menschen dienen. Wir wünschen Dir, lieber Hans Thierstein, noch manches freundliche und frohe Jahrzehnt im Kreise Deiner Lieben, in glückender Arbeit mit Deinen Kommilitoninnen und Kommilitonen auf allen Stufen des akademischen Lebens, aber auch in der politischen Gemeinschaft, welche Dich trägt und Dir die Bedingungen für Dein Forschen und Lehren sichert. Mit unseren Wünschen verbindet sich die Hoffnung — und diese Hoffnung entspricht ganz dem Geiste der Stifterin — , Du mögest Dir die heutige Ehrung zur Verpflichtung werden lassen, den Geist und die Praxis der Humanität überall dort, wo Du zu wirken vermagst, auch künftig mit allen Kräften zu fördern.

 

Oxymoronische Abenteuer

Hans R. Thierstein

Meine folgenden Ausführungen sind — ich denke angebrachterweise — aus meiner persönlichen Sicht gemacht. Ich möchte mich dabei zu drei Punkten äussern.
Wie Sie soeben gehört haben, werde ich heute für meine Forschungsbeiträge zur Naturgeschichte und meinen Einsatz für Umweltforschung und Klimapolitik ausgezeichnet.
Dass ich dafür einen Preis erhalten sollte, war für mich eine grosse Überraschung. Diese Überraschung basiert auf meinem persönlichen Verständnis meiner Tätigkeit und Funktion. Sie lässt sich vielleicht mit einem Zitat umschreiben, das ich der Erzählung «Menetekel» meines heute anwesenden Freundes Ueli Gschwind entnommen habe (ich zitiere): «Freut sich denn die Schnecke an ihrer Kriechspur?» Zu meiner ersten Überraschung gesellten sich jedoch unmittelbar auch grosse Freude und Dankbarkeit für die Anerkennung. Dass diese Anerkennung auch noch von beträchtlicher Substanz ist, freut mich natürlich in besonderem Masse. Ich bin sicher, dass ich das erhaltene Geld für Forschungsförderungsmassnahmen in meinem eigenen Umfeld zweckmässig werde einsetzen können. Gepaart mit meiner grossen Freude ist jedoch auch Verlegenheit. Verlegenheit, weil meine zitierten Leistungen nur möglich sind, wegen der mannigfaltigen Unterstützung meines Umfeldes. Wenn ich etwas Besonderes beigetragen habe, dann nur deshalb, weil mir dabei von Kolleginnen und Kollegen geholfen wurde, weil meine Frau und früher meine Kinder meine häufige geistige Absorbiertheit und meine gelegentliche physische Abwesenheit toleriert haben, und weil ich von den Vertretern verschiedenster Institutionen in meiner Tätigkeit unterstützt wurde.

Ich nehme deshalb die heutige Ehrung auch als Stellvertreter all dieser Personen entgegen. Neben meinen Familienangehörigen gehören dazu auch meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Institut, die Vertreterinnen und Vertreter der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften und des Schweizerischen Wissenschaftsrats, die Programmverantwortlichen und Mitglieder der Expertengruppe des Schwerpunktprogramms Umwelt, sowie zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, die mich in meiner wissenschaftlichen Laufbahn gefördert haben. Eine Anerkennung, wie ich sie erfahre, veranlasst natürlich auch zur Reflexion. Wie ist das, was jetzt als Besonderes empfunden wird, zu-stande gekommen? Eine solche Betrachtung ist —gezwungenermassen — immer subjektiv — aber deshalb vielleicht nicht weniger zutreffend oder wichtig. Nach der soeben verkündeten offiziellen Version werden Sie — liebe Anwesende — nun auch noch meine eigenen Betrachtungen anhören müssen — falls Sie nicht als pointiert unhöflich auffallen wollen.

«Oxymoronisch» ist im englischen Sprachgebrauch häufiger als im deutschen, kommt aber in deutschen Wörterbüchern durchaus vor, und bedeutet «selbstwidersprüchlich». Durch die Verbindung zweier sich widersprechender Begriffe entsteht eine Verstärkung der beabsichtigten Aussage, wie z. B. in «alter Knabe» oder «beredtes Schweigen». Oxymoronische Abenteuer erlebe ich auf zwei Ebenen. Einerseits auf der Ebene meiner persönlichen Vorliebe für widersprüchliche wissenschaftliche Sachverhalte — der eigentliche Antriebsmotor für meine eigene Forschungstätigkeit — und andererseits auf der Ebene der forschungspolitischen und gesellschaftspolitischen Widersprüchlichkeiten, die im Bereich der Umweltproblematik auftreten und die wir alle gemeinsam irgendwie werden bewältigen müssen. Warum habe ich mich auf dieses Glatteis begeben?

Meine frühe Erziehung war geprägt von einem fast auschliesslichen Fokus auf zwischen-menschliche Beziehungen. Die traditionellen Werte von Ehrlichkeit, Fleiss und Rücksichtnahme waren die wichtigen Orientierungstafeln in Familie und Schule. Die erste Horizonterweiterung erfuhr ich in der Familie eines Schulfreundes, dessen Eltern sozialistischen Ideen anhingen und durch die ich auf die ersten gesellschaftlichen Zusammenhänge und Ungereimtheiten aufmerksam wurde.

Mein Interesse an gesellschaftlichen Fragen wurde durch Literatur und Unterricht in der Handelsmittelschule vertieft. Die bleibenden Eindrücke meiner Lektüre von Marx und Engels Traktat «Religion ist Opium für das Volk» und von Vance Packards «Geheimen Verführern» vertieften meine Faszination mit dem Konflikt zwischen ethischen Grundprinzipien und tatsächlichem Verhalten in der Gesellschaft. In diese Phase der pubertären Orientierungslosigkeit fiel die — an einer Handelsmittelschule eher späte —Einführung in naturwissenschaftliche Disziplinen und Denkweisen. Deren Klarheit und Quantifizierbarkeit beeindruckten mich unmittelbar und ein paar Wochen Geologie-Unterricht im letzten Halbjahr vor der Matura führten zu dem etwas überstürzten Beschluss, Erd-wissenschaften zu studieren. Dieser Entschluss basierte auf der irrtümlichen Annahme, durch mehr Wissen über die Ursprünge von Mensch und Natur, der «Wahrheit» und dem Sinn des Lebens auf rationale Weise näherzukommen. Meine Eltern standen meinem Entschluss wohl ebenfalls zweifelnd gegenüber, sicherten mir aber ihre Unterstützung zu. Diese war jedoch befristet und wurde verbunden mit der definitiven Anmahnung, kein «ewiger Student» zu werden, denn man glaubte damals zwei solche Exemplare in der näheren Verwandtschaft identifiziert zu haben.

Der ursprüngliche Irrtum hat sich trotzdem als fruchtbar erwiesen. Neugierde gepaart mit Entdeckerlust wurden schon während meiner Dissertation durch Erfolg belohnt. Ich konnte eine grosse Anzahl neuer Fossilien entdecken und beschreiben und mit deren Hilfe eine Altersbestimmungsmethode entwickeln für marine Sedimente, die vor 140 bis 190 Mio. Jahren abgelagert worden waren. Wie sich kurz darnach herausstellte, waren während dieser Zeit auch die Muttergesteine von über 60 Prozent des bisher global geförderten Erdöls abgelagert worden, was das Interesse an diesem Zeitintervall natürlich dramatisch erhöhte. Neben diesen nützlichen Aspekten meiner Resultate, hatte die Erfahrung rückliegenden Zeitintervallen meine Neugierde geweckt, mehr über deren lebende und in jüngerer Zeit abgelagerten Nachkommen zu erfahren. Ein Post-doc Nationalfondstipendium und nachfolgende Forschungs- und Unterrichtsmöglichkeiten an der University of California in San Diego — und seit 1985 an Uni und ETH Zürich — haben mir erlaubt, doch ein «ewiger Student» zu bleiben — ohne dass dies von meinen Eltern als unangebracht empfunden worden wäre.

Im Verlaufe meiner 12-jährigen Tätigkeit in den USA war es mir vergönnt, zu Fragen der Altersbestimmung von geologischen Ablagerungen, der Anreicherung von Erdöl und Erdgas in der Unterkreide, zum Massenaussterben vor 65 Mio. Jahren und zu Fragen vergangener globaler Klimaschwankungen verschiedene wissenschaftliche Beiträge zu machen. Die Motivation für diese Forschungsprojekte bezog ich dabei vor allem aus der grundsätzlichen Frage der gegenseitigen Beeinflussung von Biosphäre (d. h. den Organismen als Ganzem) und Geosphäre (d.h. den unbelebten Teilen des globalen Ökosystems). Zu dieser Frage gibt es zwar zahlreiche theoretische Arbeiten — aber fast keine empirischen Daten. Der Grund dafür ist offensichtlich: Solche Daten müssten über möglichst viele Organismen an möglichst vielen Orten und über lange geologische Zeiträume zur Verfügung stehen, weil sich Arten meist nur sehr langsam verändern. Meine Erfahrung in diesen Projekten zeigte auch, dass die Beschaffung solcher Daten äusserst zeitaufwendig war und sich wohl nur in den untersuchten Ausnahmefällen rechtfertigen liess. Waren diese Ausnahmefälle aber repräsentativ für die Erdgeschichte? Um dies zu beantworten, wären wohl neue Methoden notwendig, mit welchen die Identifizierung, Zählung und Vermessung von Mikrofossilien rationeller vorgenommen werden könnte. Mit der Entwicklung von solchen Apparaten, welche Daten über Mikrofossilien selbständig und automatisch sammeln können, habe ich mich mit meiner Forschungsgruppe seit meiner Rückkehr in die Schweiz beschäftigt. Die Notwendigkeit von solchen neuen Methodenentwicklungen wurde auch international am Anfang der achtziger Jahre erkannt — sie ist in zahlreichen Planungspapieren zu finden. Aber von den etwa 20 Forschergruppen, die sich damals mit diesem Problem beschäftigten (die Mehrzahl in den USA), sind heute weniger als fünf übrig geblieben — alle in Europa. Und erst seit letztem Jahr beginnen sich wirkliche Erfolge abzuzeichnen. Neben diesen Methodenentwicklungen habe ich mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den letzten Jahren — mit nur zum Teil au-tomatisierten Methoden — nachweisen können, dass vor allem die marinen Sedimentarchive, die global verteilt und gut datierbar sind — noch grosses Potential aufweisen, uns über die Zusammenhänge von biotischen und abiotischen Prozessen in globalen Umweltveränderungen Auskunft zu geben. Auf der Forschungsfahrt der «Meteor» im östlichen Zentralatlantik, von der ich vor zwei Wochen zurückgekehrt bin, haben wir eine extreme Anreicherung von einer einzigen Algenart entdeckt. Diese Anreicherung war in klebrigen Sedimenten zu finden, in denen unser Kerngerät jeweils in einigen Metern Sedimenttiefe steckengeblieben ist. Diese mono-spezifische Algenblüte ging vor etwa einer Viertelmillion Jahren zu Ende und muss mindestens einige zehntausend Jahre gedauert haben. Was die Ursachen dafür und was die Auswirkungen auf den regionalen und globalen Stoff-haushalt gewesen sein könnten, wird uns wohl in den kommenden Jahren noch beschäftigen. Soviel zur Mikropaläontologie und zur Naturgeschichte. Sie werden denken: Scheint zwar interessant — aber auch ziemlich akademisch zu sein! Dazu muss ich Ihnen beistimmen. Und das hat mich auch selbst immer beschäftigt. Meine eigene Wissenschaftskultur als Erdwissenschafter ist diejenige des Beobachters und Analytikers. Dies ist ganz anders bei vielen anderen Wissenschaftern, z.B. den Molekulargenetikern, den Medizinern oder den Ingenieuren, die mit ihrem Handwerk etwas Nützliches herstellen oder unsere Gesundheit und Gesellschaft verbessern und unsere Umwelt aktiv beeinflussen können. Das war ja eigentlich auch, was mich in meiner Jugendzeit so fasziniert hatte und das in den Jahren meiner eigenen Absorbtion in erdwissenschaftlicher Grundlagenforschung in den Hintergrund gerückt war.

Als mich vor sieben Jahren die Anfrage des Nationalfonds erreichte, bei der Betreuung des Schwerpunktprogramms Umwelt mitzuhelfen, war deshalb die Entscheidung bald gefällt. Denn dieses Projekt schien sich die Verbindung von naturwissenschaftlichen Grundlagenkenntnissen mit aktuellen, gesellschaftspolitischen Umweltproblemen und der Entwicklung von neuen Umwelttechnologien auf die Fahnen zu schreiben. Bislang hatte ich im Rahmen meiner eigenen Forschung in Gremien der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften und des Internationalen Global Change Programmes vor allem versucht, bei der Zusammenarbeit von verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen mitzuhelfen. Das Schwerpunktprogramm Umwelt erweiterte diesen Anspruch in seiner ersten Phase auch auf die Sozial- und Geisteswissenschaften. In den letzten vier Jahren ist dieser Anspruch der Zusammenarbeit aller akademischen Disziplinen noch einmal erweitert worden — und zwar um den Einbezug der Praxis, das heisst der Verursacher, der Betroffenen und der Anwender von umweltrelevanten Vorgängen. Diese äusserst anspruchsvolle Art anwendungs-orientierter wissenschaftlicher Forschung wird als transdisziplinär bezeichnet.

Einige in diesem Raum haben an diesem widersprüchlichen — eben oxymoronischen — forschungpolitischen und wissenschaftlichen Abenteuer teilgenommen. Dass es bei einem solchen Vorhaben auch zu Unsicherheiten, Irrtümern und Reorientierungsdiskussionen kommt, ist wohl vorprogrammiert. Es ist dabei vor allem den Akademien zu verdanken, dass viele dieser Schwierigkeiten und Gefahren überwunden werden konnten — und dies durch Arbeitstagungen und die Entwicklung neuer Visionen durch Konsens von Vertretern aus allen schweizerischen Hochschulen. Die Aufbruchstimmung und Begeisterung der Programmverantwortlichen und der ausführenden Forscherinnen und Forscher war für mich — auch im internationalen Vergleich — eine äusserst positive Erfahrung und — bisher — ein Unikat. Die Herausforderung dieser neuen Forschungskultur besteht weiter, die Tiefen und Untiefen sind noch nicht ausgelotet und die Grenzen noch nicht alle abgesteckt. Einige Schranken sind jedoch aufgetaucht, mit Bezug auf die Ansprüche, die an Forscher-gruppen gestellt werden können, mit Bezug auf die Notwendigkeit der Unterstützung durch die lokalen Hochschulinstitutionen und mit Bezug auf das Gleichgewicht zwischen wissenschaftlicher Qualität und von der Öffentlichkeit wahrgenommener Relevanz. Negativstichworte zum letzten Aspekt sind Umweltaktivismus und die sogenannten Wissenschaftsläden und Wissenschaftswerkstätten, welche an einigen europäischen Universitäten unterhalten werden und die als Dienstleistung — aber kaum als Forschungsaktivität ausgewiesen werden können.
Klimapolitik ist das dritte Wortpaar, das in der Preisverleihung zitiert ist. Die Frage der Klima-veränderungen ist in der Schweiz zum Prototypen der Verbindung von internationaler Spitzenforschung mit nationalen politischen Umsetzungsbemühungen geworden — weitgehend gezündet und getragen von ProClim, dem schweizerischen Forum für Klima und Globale Umweltveränderungen. Ich erwarte auch, dass die Klimapolitik der Prüfstein sein wird, wieweit es den Intellektuellen, Politikern und anderen Meinungsbildnern gelingt, den notwendigen Wertewandel in der Öffentlichkeit zustande zu bringen. Pointierte Stichworte hier sind: Nutzen statt Besitzen, Umweltbewusstsein statt Preisbewusstsein, Wissen vermitteln statt seicht unterhalten.

Mein tiefempfundener Dank gilt zuerst Frau Brandenberger, dass sie eine so gute Idee hatte —dann den Mitgliedern der Stiftung und Frau Dr. Reusser für ihre lobenden Worte.
Hier möchte ich noch einen Einschub machen. In der ersten Mitteilung der Stiftung, dass sie mich zum diesjährigen Preisträger vorgesehen hätten, stand keine spezifische Begründung —aber der Name Prof. Beat Sitter als Kontaktperson. Als ich mich bei ihm telefonisch erkundigte, warum ich diesen Preis erhalten sollte, hat er mir zwar die Gründe, die Sie heute gehört haben, mehr oder weniger umschrieben. Aber dann kam ein ausserordentlicher Zusatz. Er sagte, er sei vor allem beeindruckt gewesen, wie ich mich in den letzten Jahren entwickelt hätte! Mit 54 Jahren eine derartige Lernfähigkeitsbescheinigung zu bekommen — und das von einem Generalsekretär der Nationalen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften — ist für mich das höchste Lob in meinem bisherigen Leben gewesen und — auch in diesem Saal — wahrscheinlich die einmaligste Auszeichnung. — Ende Einschub. Mein tiefster Dank gilt allen Mitmenschen, die mich unterstützt haben und die mit meinem Temperament und meiner gelegentlichen Ungeduld nachsichtig umgegangen sind.

Schliessen möchte ich mit meinem Dank, dass Sie zu dieser Feier erschienen sind, und mit einem Zitat meiner Tochter Stephanie: Consider yourselves embraced and kissed.